Hirngespenster (German Edition)
der Kassiererin geben. Anna versuchte, sich zu beruhigen. Gleich war alles überstanden, sie musste nur noch einpacken.
»Was ist mit dem Zeug da?«, fragte die Kassiererin und deutete auf den Kinderwagen. Anna beugte sich nach vorn und stieß einen Schrei aus: »Clara!« Im Schoß ihrer Tochter lagen Schokoriegel und Kaugummipäckchen, dazwischen ein Flachmann Chantré. Ich kann nicht mehr, dachte Anna und kämpfte gegen den Schweißausbruch an, der sie weiter übermannte. Und dann wieder Lunas Finger, die nach ihr griffen, und Emma, die weinte: »Ich hab Pipi gemacht!« Ein Rinnsal wand sich zu Emmas Füßen, sie weinte, und Clara schrie: »Isss will raaaauuus!!!«
Plötzlich griff von hinten eine Hand nach Anna, legte sich beruhigend auf ihre Schulter, und die Stimme einer älteren Dame raunte: »Ganz ruhig, junge Frau, sie hyperventilieren ja!« Und zur Kassiererin gewandt rief die alte Dame: »Geben Sie mir eine Plastiktüte, schnell!«
Die Kassiererin tat wie geheißen und beobachtete erschrocken, wie die alte Dame Anna routiniert die Plastiktüte vors Gesicht hielt und beruhigend auf sie einredete: »– Eeeein – aaaaus – eeeeein – aaaaaus. Atmen Sie weiter. Ich räume Ihre Einkäufe ein und kümmere mich um die Mädchen. Du«, deutete sie auf Luna, »hilfst mir beim Einräumen. Und du«, zeigte sie auf Emma, »hörst auf zu weinen, das ist nicht so schlimm und kann jedem mal passieren. Und Sie«, wandte sie sich an die Kassiererin, »besorgen jemanden, der das hier wegwischt.« Die Kassiererin nickte und rief über das Mikro: »Fünf acht drei, bitte einen Wischmopp an die Kasse.«
Die Dame schob Anna mitsamt Kinderwagen beiseite und legte gemeinsam mit Luna die Waren in das Kinderwagennetz. Anna lief mit der Tüte vor dem Mund in Richtung Ausgang. Dass die ältere Dame selbst noch Einkäufe auf dem Band hatte, übersah sie vollkommen – kopflos steuerte sie aus dem Gebäude und lief zu einer Bushaltestelle, die sich gegenüber der Einfahrt zum Supermarkt befand. Unter den neugierigen Blicken der Fahrgäste setzte sie sich mit ihrer Einkaufstüte vor dem Mund auf einen freien Platz und atmete. – Eeeein – aaaaus – eeein – aaaaus – eeeein – aaaaus. Schließlich öffnete sie mit zittrigen Fingern ihre Handtasche und nahm verstohlen eine ihrer Pillen heraus, die sie ebenfalls unter neugierigen Blicken hinunterwürgte. Drei Busse hielten und fuhren wieder ab. Dann erst fielen ihr die Mädchen wieder ein. Oh Gott, dachte sie und sprang auf. Um ein Haar erfasste sie ein herannahender Bus. Ein Herr hielt sie beim Arm und rief: »Hoppla junge Frau!« Anna stürzte auf die andere Straßenseite und lief in den Supermarkt zurück. Die ältere Dame wartete mit den dreien an einem elektrischen Rennauto und sah Anna besorgt entgegen.
»Entschuldigen Sie bitte, ich brauchte dringend frische Luft! Ich … es tut mir wirklich furchtbar leid, und, also, vielen Dank auch, dass Sie auf meine Kinder achtgegeben haben!«
Die Dame reichte Anna ihr Portemonnaie und sagte: »Keine Ursache. Zum Glück hatten Sie genügend Bargeld.« Sie blickte Anna fragend an. »Denken Sie, Sie kommen zurecht?«
Anna rang sich zu einem Lächeln durch und winkte ab. »Die Nerven«, sagte sie. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los war! Das ist mir noch nie passiert, das können Sie mir glauben. Ist nicht mein Tag heute!«
»Vielleicht gehen Sie doch besser zum Arzt, wissen Sie. Bei drei Kindern und dem Haushalt – Sie sollten sich eine Kur verschreiben lassen.«
Anna nickte, nahm Clara unter Protestgeheul aus dem Rennwagen – eins –, setzte sie gewaltsam in den Wagen – zwei – und schnallte sie fest – drei –. »Das mache ich, sobald ich zu Hause bin, das ist wirklich mal ein guter Tipp«, antwortete sie. Dann schnappte sie Emma bei der Hand, die weinend und in noch immer nasser Hose neben dem Rennwagen saß. »Wir gehen«, sagte sie. »Und vielen Dank nochmal.«
Luna trottete hinter ihr her.
Es war ein Tag wie jeder andere. Wenn sie nur die Rückrufbitte des Arztes ausblendete. Und wofür bitte brauchte sie eine Kur? Alles war in Ordnung. Ab und zu eine kleine Pille, und alles war wieder im Lot. Ganz einfach. Es gab lediglich ein paar wenige Situationen wie diese, die sie kaum zu händeln vermochte. Morgens zum Beispiel, wenn sie die Mädchen für den Kindergarten fertig machen musste. Matthias war der Morgen heilig, er wollte nicht gestört werden. Hatte einen harten Tag vor sich und einen ruhigen Kaffee im
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