Hirngespenster (German Edition)
Szenario aus: Sie kam in die Diele, und Emma lag in einer Blutlache am Fuß der Treppe. Oder Clara baumelte von der Zimmerdecke, ein umgefallener Stuhl zu ihren Füßen. Und dann gab es die Stimmen, die ihr sagten, es wäre das Beste, Emma und Clara wären nie geboren worden. Es wäre alles so viel leichter, so viel besser zu ertragen. Luna als Einzelkind – wie gerne wäre sie Mutter. Auch wenn Luna dumm war, aber das waren sie alle drei. Besonders Emma und Clara – egal, wie sehr sie sich auch den Mund fusselig redete und sie beschwor, sie sollten nicht alle Spiele aus den Regalen oder alle Kleider aus dem Kleiderschrank räumen, nicht alle Shampooflaschen in den Ausguss ausleeren oder ihre Stifte und Malbücher in die volle Badewanne werfen – sie machten, was sie wollten. Lachten! Und immer wieder Matthias’ verbissenes Gesicht. Wie er, den Mund zu einer geraden Linie zusammengepresst, abends gegen den Türrahmen lehnte und sie von oben bis unten betrachtete, wie sie dastand, mit zerzaustem Haar und den schreienden Kindern. Sie selbst schrie manchmal so laut, dass sie meinte, ihr versage die Stimme.
»Du bist wie eine Furie«, hatte er einmal festgestellt, und ihr geraten, sie solle etwas einnehmen. Fast hätte sie gelacht. Nahm sie doch! Schließlich hatte sie sich etwas Stärkeres besorgt. Und seitdem, zugegebenermaßen, lief es besser. Nicht nur bei ihr, nein, auch bei den Mädchen. Die einzige Nebenwirkung waren die Alpträume. Solche Alpträume hatte sie noch nie zuvor gehabt. Bereits kurz nach dem Einschlafen machte sich oft das Grauen im Schlafzimmer breit, eine Art Monster, das sich mit lautem Rauschen näherte. Wie ein Tornado, der über sie hinwegblies, sie erfassen wollte, um sie mit sich zu reißen und zu verschlingen. Die Tentakel eines riesigen Etwas griffen nach ihr in diesem Rauschen, und alles, was sie tun konnte, war schreien. Sie schrie manchmal so laut, dass Matthias ihr den Mund fest zupresste, und oft genug kam Luna gelaufen. Schrecklich war das. Andererseits: Die Tage waren besser. Sie hatte die Angst einigermaßen im Griff. Die Angst vor den Kindern, vor den Schulden, vor der Nachbarin und vor Matthias. Er würde sie eines Tages verlassen, dessen war sie sich sicher. Würde eine andere finden, eine, die mehr aus sich machte. »Wie du wieder aussiehst« – das sagte er fast täglich.
Anna atmete tief durch und griff zum Telefon.
»Frauenarztpraxis Dr. Stein, was kann ich für Sie tun?«
»Hier ist Anna Ziegler.« Ihre Stimme zitterte. »Dr. Stein hat mich um Rückruf gebeten.«
Mein Alltag besteht aus essen und schlafen. Zwischendurch werde ich gewaschen und gekämmt – das hasse ich. Mit dem Kamm zerren sie so forsch an meiner Kopfhaut, dass ich laut protestiere. Dabei könnte ich es selbst tun. Man belächelt mich. Ich soll mich nicht so anstellen, sagt man, und macht munter weiter. Anschließend schiebt mich Johannes oder Sabina raus an die frische Luft, das soll mir angeblich guttun. Vorher geht’s die Treppe hinunter, zuerst mein fahrbarer Untersatz, danach ich. Sabina ist immer völlig aus dem Häuschen, wenn wir draußen unterwegs sind. Alles Mögliche will sie mir zeigen. »Guck mal, ein Baum; wie schön die Blätter im Wind wackeln«, flötet sie. Und ständig fummelt sie an mir herum. Zupft an meiner Kleidung und an meiner Decke, richtet mich auf, wenn ich in mich zusammensinke. Ich kann es nicht leiden, wenn sie das tut. Ich habe es lieber, wenn Johannes sich um mich kümmert – von ihm lasse ich mir alles gefallen, auch, dass er mich in den Arm nimmt und wiegt, wenn es mir nicht gutgeht und ich über meine Lage hellauf verzweifelt bin. Dass ich hier mit den beiden zusammenleben muss, hätte ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht ausgemalt. Noch dazu sehen sie so zufrieden miteinander aus, dass ich nur mehr schreien könnte. Sabina sagte neulich, sie sei ja so glücklich, dass sie uns alle habe. Unglaublich ist das. Dabei hätte ich auch ein bisschen Glück verdient. Noch dazu war ich so kurz davor.
Manchmal gehen wir zu einer Gruppe von Leuten, die stecken in der gleichen Situation wie ich. Alle dort fangen wieder bei Adam und Eva an – alles, was wir jemals beherrscht haben, ist aus unseren Köpfen ausgelöscht. Uns eint das gleiche Schicksal, zumindest vermute ich das. Keiner merkt, was wirklich mit uns los ist und dass wir alles mitkriegen, was um uns herum passiert, auch wenn wir lallen oder sabbern. Sabina beklagt in dieser Runde häufig, dass ich
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