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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Keller
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zu viel herumschreie. Allfälliges Nicken begleitet ihre Schilderungen, was mich mitunter so zornig macht, dass ich mich erneut in Rage bringe. Dann wird Sabina ganz nervös, streichelt mir über den Rücken und über den Kopf, doch das beruhigt mich keineswegs. Im Gegenteil. Und zu Hause beklagt sie sich dann bei Johannes, dass ich offensichtlich keine ihrer Zuwendungen ertrage, wo sie doch alles für mich tue. Das wurmt sie natürlich. Wenn ich wieder sprechen kann, werde ich die Sache aufklären. Wenn, denn bisher bin ich meilenweit davon entfernt. Genauso weit wie von einer einzigen motorischen Glanzleistung. Ich arbeite daran. Die Ärzte sagen, ich sei möglicherweise etwas bequem. Bequem? Das ist wirklich unverschämt. Wie gerne würde ich einmal allen hier die Meinung geigen!
    Stattdessen hänge ich meinen Erinnerungen nach.

Silvie
    Anna pflegte zu sagen, ich sei gebildet. Ich weiß, was sie meinte. In Wirklichkeit meinte sie eingebildet, aber sie sagte es nicht. Anna ist »nur« Hausfrau, und sie sagte das immer so, als wären es meine Worte, dabei hätte ich solche Unachtsamkeiten nie in den Mund genommen. Ich war immer auf der Hut, wenn ich mit ihr sprach; sie bezog einfach immer alles auf sich. Dabei bewundere ich Frauen wie Anna, die sich voll und ganz der Familie widmen, denn ich denke, für Kinder ist das schön. Doch für mich war es eben nichts, und für Anna war das ein Affront. Nur weil es nichts für mich war, dachte sie, ich sähe auf sie herab.
    Dabei habe ich sie immer nur bewundert. Als Kind sah ich neben ihr aus wie ein verstrubbeltes Pony neben einem glänzenden Stallpferd –, aber sie sah darüber hinweg, ich war die Kleine. Anna entschied, dass sie Querflöte lernte und ich Geige. Ich war begeistert, wie von allem, das Anna vorschlug. Wir übten nachmittags gemeinsam auf unseren Instrumenten. Oft genug spielte unser Vater dazu auf dem Klavier, und Anna strahlte: »Wir gründen mal eine Band!«
    Das wollte ich auch! Auch wenn die Geige mir so gar nicht lag, ich gab mir alle Mühe mit dem Instrument; konnte ihm aber kaum einen sauberen Ton entlocken. In einer Band mit meiner Schwester, zwei Brüder wären unsere Ehemänner, und zu viert wären wir wie ABBA!
    Nach einigen Wochen schlug unser Vater vor, ich sollte mich besser an der Gitarre versuchen, sie entspräche mehr meinem Charakter. Anna hörte es nicht gern. »Gitarre passt nicht zu Querflöte«, stellte sie fest und presste die Lippen aufeinander. Fortan übten wir getrennt, aber ich durfte weiterhin abends ihr dunkles Haar bürsten, mich danach zu ihr ins Bett kuscheln und stundenlang mit ihr flüstern und kichern.
    Wir dachten, das Leben ginge immer so weiter. Wir wuchsen miteinander auf, eine Selbstverständlichkeit in unseren Augen, wir würden größer werden und älter, das Geheimnis der Erwachsenenwelt in weiter Ferne. Als Kind denkt man nicht an Krankheit. Schon gar nicht an den Tod.
    Als Anna sich schwach fühlte und nicht am Sportunterricht teilnehmen konnte, schob man es auf die herannahende Pubertät, auf die hormonelle Veränderung. Dass sie blass aussah und keinen Appetit hatte ebenso. Die Blutuntersuchung war reine Routine, eine Pflichterfüllung von Hausarzt und Eltern – man wollte sich nichts vorwerfen lassen. Dann der Anruf des Arztes, den ich entgegennahm – meine Mutter solle dringend zurückrufen. Ihr erschrockenes Gesicht, das Knibbeln der Finger während des Telefonats und die geflüsterten Worte: »Uniklinik. Noch heute. In Ordnung.«
    Dass Anna an Leukämie erkrankt war, war für mich kein Grund, nicht weiter zu ihr aufzuschauen. Ganz im Gegenteil. Doch für sie änderte sich alles.
    Ich begriff zuerst nicht, was für eine Krankheit das war, die meine strahlende Anna in ein dünnes, glatzköpfiges Mädchen verwandelte, das nicht mehr lächelte. Einmal wagte ich, meine Eltern ängstlich zu fragen, ob auch »etwas ganz Schlimmes« passieren könnte. Sie blinzelten stumm, waren den ganzen Tag über nicht mehr ansprechbar. Da konnte ich mir den Rest schon denken. Ich gewöhnte mir die Fragen ab und versuchte, Anna bei meinen Besuchen in der Klinik aufzuheitern, indem ich ihr erzählte, dass eine ihrer Freundinnen in Hausschuhen in die Schule gekommen war. Ich brachte ihr die Hausaufgaben und erklärte ihr den Stoff der achten Klasse, in die ich aufgerückt war. Doch sie sah durch mich hindurch. Abends in meinem Zimmer legte ich ABBA ein und grübelte stundenlang. Der Gedanke, dass das Schicksal ein frühes

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