Hirngespenster (German Edition)
waren keine Tabletten mehr zu finden gewesen. An diesem Abend war sie ein Wrack gewesen, auch wenn sie sich sehr bemüht hatte, Silvie Gehör zu schenken – sie hatte an nichts anderes denken können, als dass sie sich noch ihre Pillen besorgen musste. Immer wieder war sie von der Terrasse ins Haus gelaufen, hatte nachgesehen, ob sie nicht doch noch irgendwo eine hatte. Doch es war keine da gewesen, und die Angst war ihr ins Herz gekrochen. Die Angst vor der Nachbarin, von der sie wusste, dass sie sie verabscheute – bereits beim Einzug hatte sie Matthias gegen Anna aufbringen wollen, indem sie gegen ihren Wunsch wetterte, einen kleinen Teich auf ihrer Gartenhälfte anzulegen. Verantwortungslos sei das, in Anbetracht dessen, dass die Kinder im Garten umherliefen und es keinen Zaun gab, der sie vorm Ertrinken schützte. Und ihr Mann Thomas, der Bauunternehmer war oder Gartenpfleger und seit eh und je die Gestaltung des Gartens verantwortete, hatte mit einer Handbewegung den Teich einfach weggewischt. Inzwischen war sie froh darüber, denn die Lebhaftigkeit der Kinder hatte sie tatsächlich unterschätzt. Und Matthias – er war im Laufe der Jahre immer später nach Hause gekommen, dann, wenn er sicher sein konnte, dass die Kinder im Bett waren. Bestimmt hatte er gar keine so späten Termine, jedenfalls nicht jeden Abend. Nein, er zog es vor, im Büro oder sonst wo zu sein, bis er sicher sein konnte, dass die Kinder im Bett waren. »Das mache ich nicht mehr mit, Anna«, hatte er eines Tages gesagt, als eine der drei eine Handvoll Rührei in die Loombank geschmiert hatte. Er legte seine Serviette beiseite, stand auf und sagte: »Wenn alles weg ist und die drei Teufel im Bett sind, dann kannst du mich anrufen.« Seitdem kam er nicht vor 21 Uhr nach Hause, meistens später. Allerdings, wenn er nicht da war, war es sowieso besser. Sie stand dann nicht so unter Strom – wer konnte ihr das verdenken? Früher war er weiß Gott besserer Laune gewesen als derzeit, wo die Geschäfte so schlecht liefen. Seit drei Monaten war es ihm nicht gelungen, auch nur ein einziges Objekt zu verkaufen, und das war schlichtweg eine Katastrophe. Für alles. Für alle. Aber darüber wollte und konnte sie nicht nachdenken. Sie hatte ihm helfen wollen, über Silvie. Silvie brauchte doch ein Haus! Aber nein, sie war sich selbst für Bad Homburg zu schade. Zu spießig! Dabei hätte es ihr gutgetan, ihre Schwester in der Nähe zu haben, auch wenn Silvie auf sie herabsah, weil sie nicht so gebildet war wie sie. Genauso wie ihre Nachbarin, die ihr scheinheilig das Du angeboten hatte. Glaubte wohl, Anna merke nicht, wie sie jeden Morgen, wenn Matthias das Haus verließ, rein zufällig mit ihren beiden Töchtern auch aus dem Haus ging. Wollte demonstrieren, dass sie die flottere Mutter war, im doppelten Sinne: schicker und schneller. War jeden Morgen wie aus dem Ei gepellt, wohingegen Anna es kaum schaffte, sich das Haar zu kämmen. Jede Minute, die sie zu lange im Bad verbrachte, nutzten Emma und Clara, um das blanke Chaos anzurichten, aber dass sie ihnen schon am Morgen ihre halbe Tablette gab, das ging nicht. Einmal hatte sie das getan, und prompt hatte die Erzieherin im Kindergarten sie darauf angesprochen: »Frau Ziegler«, hatte sie beim Abholen geschmunzelt, »die beiden wirkten heute wie sediert!«
Anna hatte nur gelacht und mit dem Zeigefinger gewedelt: »Keine schlechte Idee, die zwei sind manchmal ganz schön lebhaft.« Und dann der Tipp der Erzieherin: »Lassen Sie sie doch mal auf ADHS testen.«
Gar nichts ließ sie testen, es reichte schon, dass sie selbst zum Arzt musste. Dass Emma und Clara nicht ganz normal waren, das wusste sie auch so. Schon als Babys waren sie nicht zu beruhigen gewesen, Clara noch weniger als Emma. Und immerzu Matthias’ Blicke: Du hast die Kinder nicht im Griff. Dabei war er es gewesen, der darauf gedrängt hatte, drei Kinder zu bekommen. Sie hatte nur zwei gewollt! Aber nein, in den Bad Homburger Maklerkreisen machte es sich gut, wenn man sich ein drittes Kind anschaffte. »Ich habe drei zu Hause«, pflegte er zu sagen und hatte die anerkennenden Blicke auf seiner Seite. Eigenheim, Frau, drei Kinder.
Sie war ja auch selbst stolz auf das, was sie sich geschaffen hatten, aber die ständige Sorge! Keiner hatte sie vorgewarnt, was für entsetzliche Sorgen man sich um Kinder machte! Es verging kein Tag, an dem sie nicht darüber nachdachte, dass eine der drei sterben könnte. Immer wieder malte sie sich das
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