HISTORICAL Band 0264
Beschuldigung zurückwies. Ausgesprochen eigenartig war hingegen, dass die Menschen, bei denen sich der Wohltäter besonders freigiebig gezeigt hatte, ausgerechnet jene waren, um die sich Blair am meisten sorgte. Konnte es so viele Zufälle geben? War Cameron doch der geheimnisvolle Unbekannte?
Gerade heute verrieten die dicken Wollschals für den alten Robbie und Pater MacKenzie, wie sorgfaltig die Geschenke ausgesucht worden waren. Und das weiche hellblaue Schultertuch für Mrs. Brown! Die Mühe, die sich Cameron gegeben hatte, freute Blair besonders. Er war sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Für sie selbst waren Obst, Zucker für Silvesterpunsch und Mehl liebevoll in eine Baumwollschürze gewickelt, die viel zu groß war, um je getragen zu werden. Als er dann noch ganz unschuldig gestand, wie gern er an dem Fest zum Jahresausklang teilnehmen würde, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn einzuladen. Dabei quälte sie hin und wieder der Gedanke an die Frau in London immer noch! Mit den unerwarteten Vorräten in der Speisekammer von Duncan House versprach Silvester viel opulenter zu werden als in den vergangenen Jahren. Aber auch wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte sie Cameron aufgefordert, mit ihr zu feiern.
Er war längst nicht mehr der egoistische Knabe, der sie durch sein jahrelanges Schweigen so verletzt hatte. Vielleicht stimmte es ja, dass er die Briefe nie erhalten und erst vor wenigen Tagen bekommen hatte. Konnte sie aber nur deshalb, weil ihn vielleicht keine Schuld traf, annehmen, er sei der richtige Mann für sie? Liebte er sie so, wie sie es sich wünschte? Bedeutete sie ihm mehr als eine angenehme Abwechslung, wenn er für eine Weile von seiner englischen Liebsten getrennt war?
Im Feuer lag keine Antwort, so grüblerisch Blair auch in das Flammenspiel starrte, in den Wechsel von Licht und zuckenden Schatten. Niemand konnte einem anderen Menschen ins Herz schauen. Wusste sie überhaupt, wie es um ihres stand? Sie war so tief in Gedanken versunken, dass es eine Weile dauerte, bis sie das leise Klopfen an der Tür hörte. Dann schlug ihr das Herz plötzlich rasend schnell. Aus einem unerklärlichen Grund hatte sie keinen Zweifel, wer der späte Gast war. Schnell stand sie auf, um ihn eintreten zu lassen, ehe die Dienstboten aufwachten. Es war eine Sache, tagsüber den Besuch eines Mannes zu erhalten, aber eine ganz andere, wenn es spät in der Nacht geschah.
„Komm herein, Cameron. Was, in aller Welt, willst du zu dieser Stunde noch von mir?“, fragte sie leise und lächelte herzlich, um den Worten die Schärfe zu nehmen.
„Ich möchte dir nur richtig gute Nacht wünschen“, antwortete er. „Aber ich war nicht sicher, ob der Priester nicht Anstoß nehmen würde, wenn er vorhin Zeuge geworden wäre.“
„Wenn du schon davon redest, warum hattest du es denn auf einmal so eilig, und wohin …?“ Blair kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn Cameron zog sie in die Arme und drückte sie so fest an sich, als wolle er sie nie wieder gehen lassen. Sein Mund fand den ihren, und nur einen Augenblick leistete sie Widerstand. Ihr Körper war schnell bereit, Camerons drängendem Verlangen nachzugeben, weil sie es teilte. Sie presste sich an ihn, überließ sich mit Freude den leidenschaftlichen Küssen und spürte, wie die Erregung sich steigerte. Sie fühlte sich geliebt und geborgen, strich mit den Fingern durch sein von der Nachtluft feuchtes Haar und fragte nicht länger nach seiner Vergangenheit. Es zählte nur der Wunsch, die Freuden des Jetzt zu teilen.
Wortlos erfüllten sich ihnen langgehegte Träume und Sehnsüchte. Sie entflammten sich einer am anderen, wie der Feuerstein den Funken entzündet. Auf einmal war es Blair klar, dass es das war und nicht die Verweigerung der vergangenen Nacht, was Cameron verdiente. So genoss sie seine erfahrenen Zärtlichkeiten, und der kalte Lufthauch, der durch die offene Tür strich, vermochte nicht, ihre Glut abzukühlen.
Unvermutet, als Blair glaubte, die Knie gäben unter ihr nach, ließ Cameron sie los, führte sie zum Sessel am Kamin zurück und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann wandte er sich zur Tür, als wolle er wortlos gehen.
„Cameron!“ Was konnte sie sagen, wie ihm zu verstehen geben, dass sie nun begriffen und ihm das jahrelange Schweigen verziehen hatte! Als er stehen blieb und wartete, dass sie weitersprach, erinnerte sie sich seiner Worte aus der vergangenen Woche und lächelte. „Wie schön wäre es, kämst du
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