HISTORICAL Band 0264
PROLOG
Juni 1908
Jack Kestrel suchte eine Frau.
Nicht irgendeine Frau, sondern eine, die so skrupellos, habgierig und leicht zu manipulieren war, dass sie einen sterbenden Mann erpresste.
Man hatte ihm versichert, dass sie an diesem Abend in der Kunstausstellung der Wallace Collection sein würde, aber er hatte keine Ahnung, wie sie aussah. Während er Ausschau nach dem Kurator der Sammlung hielt, der ihn mit ihr bekannt machen sollte, stand Jack ganz oben auf der Treppe und ließ den Blick über die Menge schweifen, die in Scharen in die Gemälde- und Miniaturenausstellung geströmt war. Die meisten Leute standen in kleinen Gruppen im Wintergarten und im Saal; sie plauderten, tranken Champagner und waren weniger darauf erpicht, die Gemälde zu betrachten, als vielmehr zu sehen und gesehen zu werden. Die Herren trugen Abendanzüge, die Damen in allen Farben des Regenbogens schimmernde Abendkleider und Florentinerhüte. Ihre Diamanten glitzerten im Wettstreit mit den funkelnden Kronleuchtern.
Jack drehte sich um und schlenderte langsam den Flur hinunter, der zur Grand Gallery führte. Sein Cousin, der Duke of Greenwood, hatte der Ausstellung für diesen Abend eine Reihe von Gemälden zur Verfügung gestellt, darunter zwei sehr schöne, von George Romney gemalte Porträts von Jacks Urgroßeltern, Justin Kestrel, Duke of Greenwood, und seiner Gemahlin. Jack war neugierig auf die Bilder, denn als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren sie in einer dunklen Ecke des Familiensitzes, Kestrel Court in Suffolk, verstaut gewesen und hatten dringend einer Säuberung bedurft. Buffy, der gegenwärtige Duke, war ein schamloser Kunstbanause. Für ihn war seine Sammlung nichts weiter als etwas, das man zu Geld machen konnte, besonders jetzt, wo seine Einkünfte aus seinen Ländereien beträchtlich schrumpften. Erst in der vergangenen Woche hatte Jack seinem Cousin tausend Pfund geliehen, um ihn davon abzuhalten, seine komplette Sammlung wertvoller Pferdegemälde von George Stubbs bei Sotheby’s versteigern zu lassen.
Nur eine Person betrachtete die in einem kleinen Salon ausgestellten Porträts der Kestrels. Sie waren äußerst wirkungsvoll aufgehängt worden und wurden raffiniert von unten mit Öllampen ausgeleuchtet. Dasselbe weiche Licht, das die Gemälde von Jacks Vorfahren beschien, fiel auch auf die davor stehende Frau; es ließ ihr Gesicht unter der breiten Hutkrempe leuchten und verlieh ihrem Teint einen rosig zarten Schimmer, während die Augen geheimnisvoll im Schatten blieben. Sie trug ein wunderschönes Abendkleid aus pfirsichfarbener Seide, das sich geschmeidig an ihren Körper schmiegte, und dazu einen großen schwarzen Florentiner, dessen Krempe mit pfirsichfarbenen Bändern und Rosen besetzt war.
Jack blieb in der Tür stehen und ließ den Blick auf ihrem Gesicht ruhen. Einen Moment lang verspürte er ein seltsames Gefühl in der Brust, fast als hätte die Unbekannte die Hand ausgestreckt und ihn körperlich berührt. So etwas hatte er noch nie erlebt. Abgesehen von einer verhängnisvollen Verstrickung in seiner Jugend hatte er seine Beziehungen zu Frauen stets unkompliziert gehalten, wie geschäftliche Übereinkünfte, die beiden Seiten körperliche Annehmlichkeiten versprachen. Bei keiner dieser Frauen war ihm der Atem gestockt oder das Herz stehen geblieben. Er beschloss, diesen plötzlichen und beunruhigenden Aufruhr seiner Gefühle zu ignorieren und ging auf die Unbekannte zu.
Sie drehte sich nicht um. Wie gebannt betrachtete sie das Porträt von Justin Kestrel; seine für das Regency typische dunkle Schönheit, das verwegene Lächeln auf seinen Lippen und den Anflug von Humor in seinen gefährlichen Augen.
„Gefällt Ihnen das Porträt?“
Auf Jacks leise Frage hin drehte sie sich endlich um, und ihre schönen haselnussbraunen Augen weiteten sich, als ihr Blick zwischen ihm und dem Bild hin und her wanderte. Er sah, wie sie den Mund widerstrebend zu einem Lächeln verzog.
„Er sah sehr gut aus“, sagte sie trocken. „Die Ähnlichkeit ist verblüffend, wie Ihnen wohl zweifelsohne bewusst ist.“ Jack verneigte sich. „Er war mein Urgroßvater. Jack Kestrel, ganz zu Ihren Diensten, Madam.“
Sie zogen leicht die dunklen Brauen hoch, verriet ihm jedoch ihren Namen nicht. Jack ahnte, dass sie das ganz bewusst nicht tat. Wie ungewöhnlich! Nur sehr wenige Frauen weigerten sich, Jack Kestrels Bekanntschaft zu machen. Im Allgemeinen weckte sein Aussehen ihr Interesse, noch ehe sie überhaupt
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