Historical Collection Band 01
er noch einmal die Skizze der Nymphe betrachtet, wie sie dem Gott huldigte. Erregung hatte ihn ergriffen.
Später hatte er einen Antwortbrief an Lionel verfasst, in dem er Einzelheiten bezüglich des Auftrags aufzählte, aber mit keinem Wort den Anlass ihres Streits erwähnte. Zum Schluss hatte er höflich angefragt, ob es ihm und seiner Schwester gut ginge.
Auch heute noch schämte er sich, wenn er an Loveday Trehearne dachte. Nie würde er aufhören zu bereuen, was er aus Selbstsucht, Dummheit und jugendlichem Leichtsinn getan hatte. Er hätte es nicht über sich gebracht, ihren Namen in einem Brief an Lionel zu erwähnen. Erst recht nicht in einem Brief, in dem es um diese besondere Art von Wandgemälden ging. Nein, er würde nicht einmal andeutungsweise etwas über Loveday schreiben.
In seiner Antwort war Lionel nur auf die Gemälde und die vorgeschlagene Entlohnung eingegangen. Er hatte allen Bedingungen zugestimmt, selbst aber auch eine Forderung gestellt: Das Honorar sollte bei der Hoare’s Bank eingezahlt werden, man würde nur schriftlich Kontakt halten und sich niemals treffen.
Das – fand Everett – legte die Vermutung nahe, dass Loveday noch in seinem Haushalt lebte.
Stirnrunzelnd wandte er sich wieder den halb vollendeten Wandgemälden zu. Bisher handelte es sich um kaum mehr als Holzkohleskizzen von fünf verschiedenen Motiven. Mit dem Auftragen der Farben würde Lionel erst beginnen, wenn er den ersten Abschlag auf sein Honorar erhalten hatte. Die Bezahlung musste dringend in die Wege geleitet werden. Denn je eher Lionel sein Geld erhielt, desto eher würden die Gemälde fertig werden. Und desto eher kann ich das Haus beziehen, dachte Everett.
Er hätte nicht hier sein sollen. Schließlich hatte er sich damit einverstanden erklärt, dass es keine Treffen geben würde. Warum, zum Teufel, war er also in das Viertel an der Westminster Bridge gegangen und hatte dort einen Ladeninhaber bestochen, damit dieser ihm die genaue Adresse verriet?
Längst hatte Everett die Summe, die er Lionel schuldete, bei der Hoare’s Bank eingezahlt. Trotzdem stand er jetzt am Eingang zu einem ärmlichen, von schiefen Häusern umgebenen kleinen Platz, einem Hof eher, der den Namen Little Frenchman’s Yard trug. Er war im Begriff, die Vereinbarung mit Lionel zu brechen, obwohl es überhaupt keinen Grund dafür gab. Es sei denn …
Verflucht, ich will Lione leben unbedingt wiedersehen! Sonst nichts.
Vielleicht konnte er so etwas wie Wiedergutmachung leisten. Ganz gewiss würde er nicht noch einmal etwas tun, das er sein Leben lang bereuen musste. Allerdings kam es ihm nun, da er sich der feuchten stinkenden Passage näherte, die den einzigen Zugang zum Hof bildete, äußerst unwahrscheinlich vor, dass Loveday noch bei ihrem Bruder lebte. Lionel hätte niemals zugelassen, dass seine Schwester an einem Ort wie diesem wohnte. Vielleicht hatte sie geheiratet oder …
Geheiratet! Everett bemerkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte, und zwang sich, sich zu entspannen. Es ging ihn nichts an, wenn Loveday geheiratet hatte. Er selbst war im Begriff, sich zu verloben. Sicher, noch hatte er Miss Angaston nicht persönlich kennengelernt. Doch seine Tanten hatten sich sehr taktvoll mit der Familie der jungen Dame in Verbindung gesetzt. Alle Beteiligten waren sich darüber einig, dass es eine hervorragende Partie sein würde. Phoebe Angaston war reich und schön, und er war ebenfalls reich und trug zudem einen Titel. Es war genau die Art von Verbindung, die er nach der Meinung all seiner Verwandten schließen sollte.
Seit seiner Kindheit hatte man ihm immer wieder erklärt, dass die Ehe eine Verpflichtung sei, der er sich nicht entziehen könne. Es ging um die Sicherung der gesellschaftlichen Stellung, um die Vermehrung des Reichtums, um das Fortbestehen der Familie. Liebe spielte keine Rolle.
Lionel hatte das nie infrage gestellt. Und er selbst? Nun, er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein Vater mit ruhiger Stimme die Namen von Mädchen aufgezählt hatte, die er für passende Ehekandidatinnen hielt, ehe er lächelnd sagte, dass nichts übereilt werden müsse. Dass Everett, wenn es sein Wunsch sei, sich vor der Hochzeit ruhig etwas austoben könne, wie es so viele Männer täten. Damals war ihm das vollkommen normal und logisch erschienen. So ging es in der Welt nun einmal zu.
Inzwischen allerdings war sein Vater seit vier Jahren tot, und Everett spürte, dass es an der Zeit war, eine Familie zu gründen.
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