Historical Collection Band 01
auch hier nicht zu erkennen war.
Everett schloss die Augen und stellte sich vor, wie er selbst mit den Fingern sanft über die goldenen Locken der Nymphe strich. Ihm war, als spüre er ihre weiche Wange an seiner Schulter, als höre er ihren leisen Atem. Er würde alles tun, um sie nicht wieder zu verlieren. Ein Leben ohne sie würde er nicht ertragen …
Das Rattern von Kutschenrädern riss ihn aus seinem Tagtraum, und er richtet die Augen wieder auf die Gemälde, die er in Auftrag gegeben hatte.
Wer war sie? Wer hatte für diese Bilder Modell gestanden?
Verflucht, Lionel war der Letzte, den er freiwillig als Maler engagiert hätte!
Vor sechs Jahren hatte Lionel ihm ein Ultimatum gestellt. Er hatte es akzeptiert und versprochen, sich von ihm fernzuhalten. Gewissenhaft hatte er sein Versprechen gehalten. Nur durch Zufall hatte er von einem gemeinsamen Freund erfahren, dass Lionel nach Italien gegangen war. Warum? Ob er ihm trotz allem misstraut hatte?
Nachdem er England verlassen hatte, schien Lionel den Kontakt zu allen alten Bekannten abgebrochen zu haben. Everett hätte niemals von seiner Rückkehr in die Heimat erfahren, wenn sein ehemaliger Freund sich nicht schriftlich bei ihm gemeldet hätte. Lionel hatte ihm einen Brief geschickt, in dem er darum bat, den Auftrag ausführen zu dürfen. Dem Schreiben hatte er ein paar Skizzen beigelegt.
Wie mag Lionel davon erfahren haben, dass ich jemanden suche, der mein Schlafzimmer mit ganz speziellen Wandgemälden ausstattet? fragte sich Everett. War es allgemein bekannt, dass er auf diese Art den Auszug seiner Großtante feiern wollte? Die alte Dame hatte sich entschlossen, das Stadthaus am Grosvenor Square zu verlassen, um zu einem Cousin überzusiedeln, der auf dem Lande lebte.
Everett versank wieder in seine Gedanken. Vor vier Jahren, als er den Titel seines Vaters erbte, hatte er kurz überlegt, ob er das Haus am Grosvenor Square umgestalten und beziehen sollte. Denn natürlich konnte er mit seinem Besitz tun und lassen, was er wollte. Dann hatte er sich jedoch entschieden, seiner Großtante zu gestatten, auch weiterhin dort zu leben. Er selbst würde vorerst in seiner Junggesellenwohnung bleiben. Eines wusste er nämlich genau: Seine Großtante Millicent würde ihm jedes Mal die Leviten lesen, wenn er etwas auch nur im Entferntesten Skandalöses tat.
Was er ihr besonders verübelte, war die Tatsache, dass sie sein Interesse an Kunst rundheraus verdammte. Genauer gesagt, sie lehnte eher seinen künstlerischen Geschmack ab als die Kunst als solche. Das allein war schlimm genug. Unverzeihlich jedoch war, dass sie eines seiner Lieblingsbilder, einen wunderschönen Akt, der in einem der wenig benutzten Gästezimmer hing, mit scharlachroter Farbe bespritzt hatte.
Dafür wollte er sich nun rächen. Ja, die Wandgemälde waren eine wundervolle Rache. Vielleicht würde der Schlag Großtante Millicent treffen, wenn sie erfuhr, was die Bilder darstellten. Nun, dann würde sie zumindest nicht mehr unentwegt über die Tugenden ihres frommen Vaters sprechen. Da dieser schon vor vielen Jahren gestorben war, konnte er sich im Gegensatz zu seiner Tochter nicht mehr über die erotischen Bilder aufregen, die jetzt die Wände seines ehemaligen Schlafzimmers bedeckten.
Ein halbes Dutzend Maler hatte Vorschläge gemacht, wie das Zimmer gestaltet werden könne. Doch nicht eine Idee, nicht eine der eingereichten Skizzen hatte Everett gefallen. Sicher, er hatte etwas eindeutig Erotisches verlangt. Aber was man ihm zeigte, war geschmacklos und lüstern. Auch wenn es ihm in erster Linie darum ging, seine Großtante zu ärgern, so wollte er doch auf keinen Fall in einem Raum voll drittklassiger Bilder schlafen.
Lionels Skizzen waren die einzigen gewesen, die ihm zusagten. Als er sie betrachtete, hatte sein Pulsschlag sich beschleunigt. Trotzdem hätte er auch sie beinahe zurückgewiesen. Denn auch nach sechs Jahren konnte eine Wunde noch brennen, wenn man Salz auf sie streute. Doch dann hatte er den Absender gelesen. Eine Adresse in der Nähe der Westminster Bridge – was nur bedeuten konnte, dass es Lionel finanziell schlecht ging.
Nun fühlte er sich verpflichtet, Lionel den Auftrag zu erteilen. Denn dadurch konnte er ihm helfen und so vielleicht ein wenig von dem wiedergutmachen, was er ihm damals angetan hatte. Es quälte ihn noch immer, dass sein unehrenhaftes Verhalten zum Bruch ihrer Freundschaft geführt hatte.
Damit hatte er seine Entscheidung gerechtfertigt. Dann hatte
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