Historical Exclusiv 45
sinken.“
Sie brachte kein Wort über die Lippen. Nur ihr leeres Gesicht erbleichte noch mehr, als das Blut in ihre Gliedmaßen zurückkehrte.
Rorik zog die Ärmel des Kittels hoch und bedeckte ihre Nacktheit, ließ nur den Rücken frei. Und dann hob er sie hoch, legte sie bäuchlings über die Schulter und erhob sich.
Er trug sie fort, ohne ein festes Ziel vor Augen zu haben. Er wusste nur, dass er sie nicht zurücklassen konnte. Nicht in diesem Zustand, verletzt und hilflos. Er empfand weder Unbehagen noch Gewissensbisse und scherte sich nicht darum, dass sie Engländerin war. Sollten die Nornen, die Schicksalsgöttinnen, getrost Unheil in seinen Lebensfaden weben, weil er sie entführte. Er hatte für sie getötet.
Nun gehörte sie ihm.
2. KAPITEL
G eräusche schwollen und verebbten wie in einem Traum. Laute Männerstimmen, das Prasseln einer Feuersbrunst, ein gellender Schrei, der plötzlich abriss.
Eine Frau floh kreischend, verfolgt von zwei Männern. Wer mochte sie sein? Dann erfasste Yvaines verschwommener Blick den leblosen Körper eines Toten am Flussufer. Die Trauer, die ihr Entsetzen und den brennenden Schmerz überlagerte, überstieg das Maß des Erträglichen.
Ihr Bewusstsein verdunkelte sich wie ein zugeschlagener Fensterladen, der die Gewalt eines Gewittersturms abhielt. Sie hörte die Stimme ihres Entführers, die zwei Männer scharf zurechtwies, sah, wie sie die Verfolgung der fliehenden Frau aufgaben, aber nichts ergab einen Sinn.
Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gebracht wurde, und es kümmerte sie nicht.
„Rorik! Wieso pfeifst du die Leute zurück? Es ist noch viel zu holen. Seit wann gibst du dich mit dem Kuhstall zufrieden, wenn du die Kirche haben kannst?“
Rorik beäugte den hoch gewachsenen, bärtigen Krieger, der ihm in den Weg trat. Sein Helm war verbeult, an einem muskulösen Arm klaffte eine Wunde, aber seine blauen Augen blitzten vergnügt. Über seiner Schulter hing ein Sack, aus dem Gegenstände aus Silber und Gold ragten.
„Wie ich sehe, hast du dir deinen Anteil der Beute gesichert, Thorolf.“
„Mich hat keiner daran gehindert“, entgegnete Thorolf, der nun neben seinem Herrn herging. „Aber ich sehe zum ersten Mal, dass du dich bedienst. Erzähl mir bloß nicht, du willst deine Stiefmutter mit einem neuen Sklaven überraschen. Das Bürschchen würde schon nach einer Woche den Verstand verlieren.“ Seine Stimme nahm einen schrillen zänkischen Ton an. „Tu dies, mach das. Nein, nicht so, sondern so.“
Um Roriks Mundwinkel zuckte ein Lächeln, als Thorolf die misstönende Stimme seiner Stiefmutter treffend nachäffte.
„Ich würde Gunhild nicht einmal einen Hund anvertrauen“, fuhr Thorolf fort und warf einen flüchtigen Blick auf die leblose Gestalt über der Schulter des Freundes. „Schon gar nicht einen halb verhungerten Jungen. Hast du etwa vor, ihn mitzunehmen? Er würde die Fahrt nicht überstehen.“
„Offenbar waren wir zu lange auf hoher See“, erwiderte Rorik trocken. „Schau mal genau hin, Schwachkopf.“
Thorolf quittierte den Spott mit einem Achselzucken, bemerkte aber erst jetzt das goldbraune Haar, das bis zu Roriks Knien hing. Die Augen traten ihm beinahe aus den Höhlen.
„Thors Hammer! Das ist eine Frau.“
„Alle Achtung, Thorolf. Es ist beruhigend zu wissen, dass meine Männer eine hervorragende Beobachtungsgabe haben.“
Roriks Sarkasmus prallte an Thorolf ebenso ab wie seine Kränkung. „Aber du hast noch nie eine Frau mitgenommen in all den Jahren, in denen wir gemeinsam auf Beutefahrt gegangen sind“, verteidigte er sich. „Und du hast die Leute immer davon abgehalten.“
Rorik schwieg.
„Was wird Othar dazu sagen?“, fuhr Thorolf zweifelnd fort.
„Wieso soll er etwas sagen?“
„Weil er immer das will, was du hast. Nein, er will mehr. Wenn du eine Frau mitnimmst, will er das ganze Schiff mit Weibern beladen, bis wir sinken.“
„Wo ist Othar eigentlich?“ Mehr hatte Rorik dazu nicht zu sagen.
Thorolf wuchtete den schweren Beutesack auf die andere Schulter und wich einem schwelenden Holzbalken aus. „Wahrscheinlich ist er hinter einem Weiberrock her. Nur Odins Raben wissen den Grund. Im Danelag gibt es haufenweise willige Mädchen, wenn er es nicht abwarten kann, bis wir wieder zu Hause sind.“
Er fing Roriks spöttischen Blick auf und lenkte ein. „Nun gut, er ist eben ein junger Heißsporn. Was allerdings nicht bedeutet, dass ich es richtig finde, dass du Othar mitgenommen hast.“
„Er ist mein
Weitere Kostenlose Bücher