historical gold 036 - Der Flug des Falken.doc
rührend diese Einstellung auch sein mochte. Fröhlich winkten die auf den Feldern tätigen Landsassen ihr zu, aber es entging ihr nicht, dass so mancher erstaunte Blick sie traf.
In der Flur ließ sie der Stute freien Lauf, damit das Tier sich austoben konnte. Der laue, vom Duft wilder Blumen erfüllte Wind wehte ihr ins Gesicht; die Sonne tauchte Wald und Auen in ein goldenes Licht, und hoch in der Luft jubilierten die Lerchen. Beglückt von diesem wundervollen Tag, fand Meriel es ausgeschlossen, dass Unheil ihn trüben könne. Die Möglichkeit, hin und wieder dieses berauschende Gefühl der Freiheit zu genießen, hätte sie nie mehr bekommen, wäre sie die Braut Christi geworden. Die Jahre in Mylord Moretons geschäftigem Haushalt waren wie im Fluge vergangen. Nur selten hatten ihr der klösterliche Friede und die Gemeinschaft der Nonnen gefehlt. Und wenn sie sich im Trubel des ereignisreichen Lebens hier in Avonleigh flüchtig des beschaulichen Daseins von Lambourn Priory entsann, Schloss sie die Augen, entsann sich der überirdischen Erscheinung und wusste, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen.
Hinter den Äckern erstreckte sich offenes Brachland, das einst, vor dem Einfall der Normannen in England, urbar gewesen war und nach Alans Vorstellungen wieder bebaut werden sollte. Meriel zügelte die Stute, nahm dem Pelegrin Geschüh und Lederkappe ab und sagte, während sie ihm zärtlich über den Kopf strich: „Fang uns eine gute Beute!"
Schwungvoll warf sie ihn hoch, und mit kräftigen Schlä gen der mächtigen Schwingen stieg er auf. Bewundernd schaute sie ihm nach und neidete ihm die Fähigkeit, sich so frei und ungebunden in die Lüfte erheben zu können. Bald war er nur ein kleiner dunkler Fleck vor dem azurblauen Firmament und ließ sich eine Weile mit dem Wind treiben. Tiefer kommend, verharrte er einen Moment über der Wiese und stieß pfeilschnell zu.
Das Läuten der Glöckchen zeigte Meriel an, wo die Sahin sich befand. Sie ritt zu ihr, saß ab und löste das Beutetier aus den scharfen Krallen. Dann warf sie Cha nson noch mehr mals an ein Wild und hatte nach einiger Zeit ein Birkhuhn, einen Fasan und ein Kaninchen am Sattel hängen.
Die Verfolgung des weit schweifenden Jagdvogels führte sie immer tiefer in das Gelände, und schließlich hielt sie auf der Kuppe eines Hügels an. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten, und die schräger fallenden Strahlen flirrten über den Wipfeln eines ausgedehnten Gehölzes, das sich zu Meriels Füßen im Tal erstreckte. In der Annahme, das königliche Jagdrevier vor sich zu haben, beschloss sie voll Bedauerns, umzukehren und nach Avonleigh zurück-, zureiten.
Riesige Waldflächen des Reiches waren nur dem König und seinen Günstlingen zur Nutzung vorbehalten, und vie le Noble lehnten sich gegen diesen unter William dem Eroberer einge führten herrschaftlichen Wildbann auf. Selbst die angesehensten Edlen wurden mit schweren Geldstrafen belegt, sofern nachgewiesen werden konnte, dass Eigentum der Krone getötet worden war, und jeder Gemeine musste damit rechnen, Wilderei mit dem Tode zu büßen.
Meriel holte Pfeife und Lockfedern aus der Falknertasche, setzte die kleine Flöte an die Lippen und blies die Chanson vertrauten Töne. Dann wirbelte sie das Federspiel über dem Kopf und sah erleichtert, dass der Pelegrin zurückkehrte. Er war schon recht nah, als unversehens eine aus dem Unterholz auffliegende Hacktaube ihn ablenkte. Stracks ging er im Sturzflug auf sie nieder, verpasste sie jedoch. Verstört wich die Taube der Sahin aus, flatterte aufgeregt über das Gebüsch und suchte ihr Heil dann in der Flucht. In großem Bogen war Chanson erneut aufgestiegen und flog dem Beutevogel nach, der in einem Wirbel weißen Gefieders über dem Walde niederging und, die Verfolgerin dicht hinter sich, zwischen den Bäumen verschwand.
„Oh, weh!" murmelte Meriel und seufzte. Warum musste Chanson ausgerechnet hier ihren Ruf missachten? Der Königliche Wald war der letzte Ort, wo sie den entflohenen Pelegrin aufspüren wollte. In der Umgebung von Avonleigh hatte sie sich sicher gefühlt, doch dort im Tann, angesichts der Gefahr, nicht nur gegen die Gesetze des Königs zu verstoßen, sondern den verfeindeten Earls of Shropshire über den Weg zu laufen, sah die Sache ganz anders aus.
Meriel ermahnte sich, nicht ängstlich zu sein. Schließlich war sie bisher keiner Menschenseele begegnet. Sie lenkte die Stute den Abhang hinunter, ritt in den schattigen
Weitere Kostenlose Bücher