historical gold 036 - Der Flug des Falken.doc
dass es auf ihre Kosten geschah. Vielleicht war er gar nicht der Graf, und dann machte sie sich lächerlich.
Befangen schaute sie von einem zum anderen, bis ihr Blick auf dem hellgelockten Chevalier verweilte, der ihre Kenntnis der normannischen Sprache bezweifelt hatte. Er saß mit unergründlicher Miene neben dem Blonden zu Pferde und war bei weitem nicht so attraktiv wie er. Die Gewandung war etwas schlichter, und auch das mochte der Grund gewesen sein, weshalb Meriel ihm bislang wenig Beachtung geschenkt hatte. Obgleich er die Aufmerksamkeit nicht sofort auf sich zog, konnte Meriel, sobald sie ihn angesehen hatte, die Augen nicht mehr von ihm wenden. Er strahlte Entschlusskraft, Autorität und Willensstärke aus. Hoffend, sie möge sich nicht irren, beugte sie das Knie und neigte ehrerbietig das Haupt.
Die Reiter lachten auf, und Richard sagte: „Wohl dir, Adrian! Die Kleine hat ein Auge für Earls!"
„Mag sein", erwiderte Adrian de Lancey trocken. „Ich glaube eher, dass sie mich früher schon einmal gesehen hat."
Unverwandt hielt er die Augen auf Meriel gerichtet, und eine leichte Unruhe ergriff sie.
Die Züge des reglosen Ant litzes waren feingeschnitten und hatten große Ähnlichkeit dem Gesicht des blonden Gefährten. Die beiden unterschieden sich zwar wie Feuer und Wasser, aber Meriel fand sie gleichermaßen anziehend, jeden auf seine Art.
Walter of Evesham streckte die Hand aus und sagte grimmig: „Händige mir deinen Beutel aus!"
Da sie wusste, dass es sinnlos war, Widerstand zu leisten, ließ sie den Ledersack von der Schulter gleiten und übergab ihn widerwillig.
Er öffnete das Zugband, zog erst den Fasan, dann das Birkhuhn heraus und knurrte ungehalten: „Du hast gewildert! Wie heißt du, und woher kommst du?"
Meriel war sprachlos, dass sie der Wilderei bezichtigt wur de, und überlegte fieberhaft, was sie antworten solle. Es stand ihr zu, in der Gemarkung des Bruders zu jagen. Wie aber sollte sie den Nachweis erbringen, dass die Tiere auf Alans Grund und Boden gefangen worden waren? Die Dinge hatten eine gänzlich unerwartete Wende genommen, und unwillkürlich kroch ihr die Angst in den Nacken. Wilderei war ein Kapitalverbrechen, und dieser Earl of Shropshire konnte es schnell zum Vorwand nehmen, Avonleigh mit Mord und Brand zu überziehen. Für einen habgierigen Landesherrn war jeder Anlass gut genug, den Besitz von Anhängern der Gegenpartei auszuplündern.
„Bist du taub, Balg?" fragte der Hauptmann barsch. „Ich will deinen Namen wissen!"
„Sie scheint aus dem Westen zu sein", warf Mylord Shropshire ein, „und beherrscht deshalb unsere Sprachen nicht." Und zu Meriels Überraschung erkundigte er sich dann in fließendem Walisisch: „Verrate uns, wie du heißt und wo du lebst."
Meriel biss sich auf die Unterlippe. Der Bruder war nicht daheim, um den Hof zu verteidigen, und in Avonleigh gab es nur wenige Männer. Sie musste vermeiden, dass der Earl das Gut angriff, und somit war es das Beste, nicht die Wahrheit zu sagen. Da man sie ohnehin für eine Magd hielt, würde sie die Rolle spielen. Sie knickste linkisch und erwiderte: „Ja, ich stamme aus Wales, Herr, aber ich beherrsche die Sprache deines Landes. Ich werde Meriel genannt." Glücklicherweise war dieser Name in Wales und den westlichen Grenzgebieten recht gebräuchlich. „Ich schwöre", fügte sie eindringlich hinzu, „dass ich keines Vergehens schuldig bin! Ich habe nicht hier, sondern im Gebiet östlich des Waldes gejagt."
„Willst du, dass wir dir dieses Ammenmärchen glauben?" erwiderte der Hauptmann und schnaubte verächtlich durch die Nase. „Es ist gegen das Gesetz, dass Leibeigene einen Falken besitzen. Gib ihn mir!"
„Nein! Ich bin keine Hörige, und die Sahin gehört mir!" wehrte sich Meriel und hob schützend die Hand vor Chanson. Sie merkte, dass sie sich in ihrem Lügennetz verstrickt hatte. Als Tochter eines normannischen Edlen hatte sie das Recht, Beizvögel zu halten. Bereit, die Wahrheit zu gestehen, besann sie sich indes rasch eines anderen. Wenn sie zugab, dass sie nicht von niederer Geburt war, brachte sie Avonleigh in Gefahr, und dieses Risiko mochte sie nicht eingehen. Jäh entsann sie sich, dass der Bruder vor der Abreise in die Normandie dem Verwalter erklärt hatte, der neue Earl sei einer der bösartigsten Männer unter der Sonne.
Beklommen sah sie den Earl of Shropshire an, der sie unbewegten Gesichtes anschaute, und fragte sich, ob dieser zurückhaltende, stille Mensch wirklich zu
Weitere Kostenlose Bücher