HISTORICAL JUBILÄUM Band 03
fragte sie sich. Derjenige, der gerade in die Wanten kletterte? Oder der, der an der Reling stand und aufs Ufer blickte?
Sie hatte ihrem Großvater versprochen, dass sie es schaffen würde. Doch jetzt, in diesem Augenblick, musste sie sich eingestehen, dass sie das Versprechen nicht halten konnte. Das Herz war ihr so schwer vor Kummer, dass es zu zerbrechen drohte. Wenn sie geglaubt hatte, der Verlust von Gray sei schmerzhaft gewesen, so war der Verlust von Gryf doch unendlich schlimmer. Sie liebte ihn. Nicht nur wie ein Kind, das einen Helden anhimmelt, sondern von ganzem Herzen und voller Hingabe, wie eine Frau einen Mann nur lieben kann. Sie hatte ihm alles geschenkt, was sie ihm geben konnte. Vertrauen. Aufrichtigkeit. Stolz. Und er hatte alles genommen und sie mit nichts zurückgelassen. Mit nichts außer Tränen.
Jetzt brach sich ihr Kummer Bahn. Große, heiße Tränen strömten über ihre Wangen und benetzten den samtenen Stoff des Kleides. Wie sie die Tränen hasste! Sie verabscheute die Schwäche, die sich dadurch offenbarte. Doch es ließ sich nicht ändern. Trotz all ihrer vielversprechenden Versuche, ein harter Schiffskapitän zu sein, verwandelte sie sich nun in eine wimmernde, törichte Frau, die Tränen wegen eines Mannes vergoss. Eines Mannes, den es offenbar nicht kümmerte, welches Leid er in ihrem Herzen ausgelöst hatte, als er zur Tür hinausgegangen war.
Sie ließ den Tränen freien Lauf und machte keine Anstalten, sich zusammenzureißen. Hier oben gab es niemanden, der ihre Demütigung sah, und daher hatte sie keinen Grund, sich weiterhin tapfer zu geben.
Schließlich überließ sie sich ganz ihrem Kummer und vergrub das Gesicht in den Händen, während ihr Körper von heftigen Schluchzern erfasst wurde.
„Tu das nicht. Ich kann den Anblick nicht ertragen.“ Die tiefe, angenehme Stimme ließ Darcy herumwirbeln.
„Gryf.“ Ungläubig wischte sie ihre Tränen fort, da sie glaubte, einem Trugbild zu erliegen. „Was machst du …? Ich dachte, du seist …“ Sie deutete auf das Schiff, das unten im Hafen vor Anker lag. „Newt sagte, er habe dich an Bord gehen sehen.“
„Ich war auch an Bord. Und ich dachte, ich könnte es durchhalten, aber die Vorstellung, nach Indien zu segeln, während du hier …“ Er schüttelte den Kopf und war immer noch ergriffen, Darcy weinend angetroffen zu haben. Ein stechender Schmerz machte sich in seinem Herzen bemerkbar. „Du bist immer so tapfer gewesen. Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen.“
„Das hast du auch nicht.“ Hastig versuchte sie, die Tränen zu trocknen. „Ich weine gar nicht.“
„Ja. Das sehe ich.“ Er spürte, wie ungern sie ihre Schwäche eingestand, und bemühte sich, sie nicht weiter zu behelligen.
Dann räusperte er sich. „Nicht, dass sich etwas geändert hätte, Darcy. Ich denke immer noch, dass ich deine Liebe nicht verdiene. Und ich habe kein Recht, dich zu bitten, dein Leben mit mir zu verbringen, wenn ich keine Vorstellung davon habe, wie meine Zukunft aussehen wird.“
„Weiß irgendjemand, was die Zukunft uns bringt, Gryf?“
Ihre Frage stimmte ihn nachdenklich. Wie erwartet, kam sie genau auf das Wesentliche zu sprechen und hielt sich nicht mit Nebensächlichkeiten auf. „Natürlich nicht“, erwiderte er. „Doch zumindest kennen die meisten Menschen ihre Vergangenheit.“ Vorsichtig suchte er nach den richtigen Worten. „Ich liebe dich, Darcy. Mehr, als du ermessen kannst. Ich wäre der glücklichste Mensch der Welt, wenn du bereit wärest, meine Frau zu werden.“
Als er sah, dass sie etwas erwidern wollte, hob er warnend die Hand. „Doch wenn du dazu bereit bist, dann musst du der harten Tatsache ins Auge sehen, dass ich eines Tages womöglich mein Gedächtnis wiedererlange. Und dann könnte es Dinge in meiner Vergangenheit geben, die wir lieber gar nicht wissen möchten. Vielleicht habe ich irgendwo Frau und Familie.“
Sie verdrängte die Angst, die in ihr aufstieg. An so etwas wollte sie jetzt nicht denken. Dazu hätte sie noch genügend Zeit in den langen Winternächten, wenn draußen der Wind heulte und einem in der Dunkelheit ganz beklommen zumute war. In diesem Augenblick indes würde sie sich an das klammern, was er ihr anbot. Denn es war das Einzige, wonach sie sich wirklich sehnte.
„Ich bin bereit, das Risiko einzugehen, Gryf. Doch du musst es auch sein.“
Er schüttelte den Kopf. „Darcy, für mich gibt es kein Risiko. Ich liebe dich. Von ganzem Herzen. Aber ich möchte dir in der
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