Historical Lords & Ladies Band 40
Gefühlsaufruhr Luft zu machen, zog sie die Pistole aus der Tasche und zielte auf einen abgestorbenen Zweig. Der Schuss krachte ohrenbetäubend, und der Lärm drang bis zu dem überschwemmten Feld hinüber, das Christian und Giles gerade inspizierten.
„Wer, zum Teufel, ballert in unserem Wald herum?“, fragte Giles, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Feld konzentrierte und skeptisch den Kopf schüttelte. „Glaubst du, man kann hier jemals Mais anbauen?“
Christian war nicht so pessimistisch. „Durchaus – wenn wir die Kanäle verbreitern und einen quer durch die Mitte anlegen.“ Nachdenklich schaute er in Richtung des Waldes, dann lenkte er sein Pferd auf den schmalen Feldweg. „Vor dem Dinner könnte ich einen Brandy vertragen, um mich aufzuwärmen.“
Belustigt überlegte Giles, ob sein Bruder sich jemals wieder in England akklimatisieren würde. Hoffentlich … Es wäre schrecklich, wenn Christian nach Indien zurückkehren würde. Seine Studien im Internat und später an der Universität hatten ihn ausreichend beschäftigt, und dennoch hatte Giles ihn in all den Jahren schmerzlich vermisst. Nun war er beinahe froh über den Reitunfall und sein gebrochenes Bein. Der erzwungene Aufenthalt in Moor House bot ihm eine Gelegenheit, seinen älteren Bruder von Neuem kennenzulernen. Das bedeutete ihm sehr viel. Bei Christians Abreise war Giles ein kleiner Junge gewesen. Jetzt diskutierte Christian ernsthaft mit ihm über Veränderungen, die er auf den Ländereien einführen wollte, fragte ihn nach seiner Meinung, und darauf war Giles sehr stolz.
Als sie die Wiese erreichten, die zum Haus hin abfiel, knallte ein weiterer Schuss. In Gedanken versunken, bemerkte Giles zunächst nicht, was geschehen war. Dann sah er, wie sein Bruder seinen rechten Arm oberhalb des Ellbogens umklammerte und aus dem Sattel fiel.
Blitzschnell stieg Giles ab und kniete neben der reglosen Gestalt nieder. Er fand kaum Zeit, das Ausmaß der Verletzung festzustellen, bevor er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm und den Kopf hob. Verblüfft beobachtete er, wie Megan aus dem Wald trat. Der Gegenstand in ihrer Hand sah verdächtig nach einer Pistole aus. Bei Christians Anblick blieb sie abrupt stehen, dann raffte sie die Röcke und eilte über das Gras. „Was ist geschehen?“, fragte sie atemlos. „Ist er vom Pferd gefallen?“
„Er wurde angeschossen.“ Verzweifelt versuchte Giles, seine schreckliche Vermutung zu verdrängen.
Als sie das Blut entdeckte, das aus Christians Ärmel quoll, glitt die Pistole aus ihren zitternden Fingern. Doch es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie sich fasste und einen Streifen aus ihrem Unterrock riss. Dann sank sie neben dem Verletzten auf die Knie und verband die Wunde. „Reite zum Haus, und hol die Kutsche, Giles!“, befahl sie. „Ein Lakai soll den Arzt verständigen. Und bring mehrere Männer mit, wenn du zurückkommst. Es wird nicht so einfach sein, deinen Bruder in den Wagen zu heben.“ Er rührte sich nicht von der Stelle. Irritiert schaute sie zu ihm auf. „Um Himmels willen, was ist los? Worauf wartest du?“
Unwillkürlich warf er einen Blick auf die Pistole, die am Boden lag. „Aber – ich kann dich nicht mit ihm allein lassen“, protestierte er mit schwacher Stimme. „Wer immer diese Kugel abgefeuert hat …“
„Keine Bange, ich bin eine gute Schützin und verfehle nur selten mein Ziel. Reit endlich zum Haus, bevor dein Bruder noch mehr Blut verliert!“
Immer noch widerstrebend, erkannte Giles, dass er keine Wahl hatte. Megan sah ihn auf seinem Pferd davongaloppieren, dann wandte sie sich wieder zu Christian. Vorsichtig drehte sie ihn auf den Rücken und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. An seiner Stirn entdeckte sie eine aufgeschürfte Stelle. Offenbar hatte er sich bei seinem Sturz den Kopf angeschlagen. „Oh, mein Liebster“, flüsterte sie und kämpfte mit den Tränen. Behutsam strich sie eine dunkle Locke aus seinem Gesicht. „Wer trachtet dir nach dem Leben?“ Sie merkte nicht, dass sie ein Kosewort ausgesprochen hatte.
Aber Christian war nur ein paar Sekunden lang bewusstlos gewesen, und er hatte es gehört – ebenso wie ihr kurzes Gespräch mit Giles. Im Gegensatz zu seinem Bruder zweifelte er nicht an ihrer Unschuld. Die Kugel, die ihn verletzt hatte, stammte aus einer anderen Waffe.
Als er spürte, dass sie sich bewegte, hob er die Lider und beobachtete, wie ihr Blick den Waldrand absuchte. Dann lud sie fachkundig ihre Pistole nach.
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