Historical Saison Band 06
einzigen Gedanken an die Gefühle der Lyndhurst-Braut. Dass sie möglicherweise mindestens ebenso wenig einen Wunsch verspürte, einen verarmten Viscount zu ehelichen wie er ein radikales älteres Mädchen, kam ihm nicht in den Sinn.
1. KAPITEL
Miss Cassandra Ward, entfernte Cousine von Anthony Lyndhurst of Lyndhurst Chase, Erbin von hunderttausend Pfund und Sympathisantin radikaler Ideen, klammerte sich an die bemoosten Äste einer Eiche, während sie versuchte, ein unansehnliches selbstgemachtes Spruchband mit einer Schnur zu befestigen. Knoten waren noch nie ihre Stärke gewesen.
„Brot für die Armen!“ stand in großen ungleichen Lettern auf dem Spruchband. Die grellen grünen und roten Buchstaben waren unordentlich auf den weißen Stoff genäht. Nähen gehörte genauso wenig wie das Binden von Knoten zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.
Mehrere Buchstaben flatterten bereits im Wind. Die Nähte hatten sich gelöst, als Cassie beim Erklettern des Baumes mit dem Spruchband an spitzen Zweigen hängen geblieben war. Es begann zu regnen, und der Nieselregen durchweichte sowohl das Spruchband als auch ihre Kleidung. Dennoch war sie wild entschlossen, den Viscount Townend mit ihrer Protestaktion derartig zu empören, dass er seinen Kutscher anweisen würde, sofort zu wenden und nach London zurückzukehren. Sie durfte nicht zulassen, dass Anthony, John und dieser eingebildete Adlige einfach über ihr Schicksal bestimmten. Vielmehr beabsichtigte sie, bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr unverheiratet zu bleiben, denn dann konnte sie ganz allein über ihr Vermögen bestimmen. So viel zu Cassie Ward und ihrer Meinung über eine Hochzeit.
Selbstverständlich hatte Anthony ihr den Vorschlag unterbreitet, als habe sie die freie Wahl. Viscount Townend war zur House Party eingeladen worden, um Cassie kennenzulernen und damit die beiden sehen konnten, ob sie zueinander passten. Wie Anthony war er ein ehemaliger Soldat und wurde schon deswegen als geeignete Partie erachtet. Zwar übte man keinen Druck auf sie aus, doch Cassie war sich ihrer Lage sehr wohl bewusst. Da sie keine engen Familienangehörigen mehr hatte, stellte sie für ihre Cousins eine Last dar. Sie würden sich zweifellos glücklich schätzen, sie gut verheiratet zu wissen. Und ab und an, wenn sie in Ruhe darüber nachdachte, musste sie einräumen, dass sie durchaus ein Verlangen nach einem eigenen Zuhause und einer eigenen Familie verspürte. Allerdings hatte man ihr stets nur um des Geldes wegen den Hof gemacht, und bei Lord Quinlan verhielt es sich nicht anders. Er war ein Mitgiftjäger und sie verabscheute Männer von diesem Schlage.
Cassie spähte zwischen den gelb verfärbten Blättern hindurch, um zu sehen, ob sich die Kutsche des Viscounts näherte. Aus zuverlässiger Quelle wusste sie, dass er an diesem Nachmittag eintreffen sollte, auch wenn eine genaue Zeitangabe unmöglich war. Wenn sie Pech hatte, musste sie noch stundenlang oben im Baum hocken, obwohl ihr schon jetzt die Glieder wehtaten und ihr die Nässe unter die Kleider kroch. Unter diesen Umständen konnte sie den Anblick der Kupfer- und Goldtöne, in die der Herbst die Landschaft getaucht hatte, nicht genießen. Es wurde immer ungemütlicher. Der zunehmende Wind, der von den Hügeln kam, kündigte ein Gewitter an. Die hohen Gräser entlang des Wegs, der vom Dörfchen Lynd nach Lyndhurst Chase führte, bogen sich immer wilder hin und her. Sie fröstelte.
Plötzlich näherte sich ein Reiter. Cassie beugte sich vor, um herauszufinden, ob es sich um den Mitgiftjäger handelte. Die äußeren Anzeichen schienen ihr widersprüchlich. Das Pferd ließ sich leicht als erstklassiges und reinrassiges Zuchtpferd identifizieren. Seit Jahrhunderten wurden auf Lyndhurst Chase Pferde gezüchtet, und Cassie besaß dafür einen untrüglichen Blick. Andererseits wurde der Gentleman von keinem Reitknecht begleitet und führte auch kein Gepäck mit sich. Vielleicht ritt der Viscount voraus, und seine Kutsche folgte hinterher. Cassie hielt sich mit einer Hand an einem stabilen Ast fest und beugte sich noch weiter vor, um das Gesicht des Gentlemans sehen zu können.
Der Reiter zog nur fünfzehn Meter vor dem Baum die Zügel an, nahm den Hut ab und schüttelte das Regenwasser von der Krempe. Cassie versuchte, so viel wie möglich zu erkennen. Sie sah, dass er jung war – viel jünger als sie sich den Mitgiftjäger vorgestellt hatte. Er hatte dunkles Haar und breite Schultern und saß lässig im Sattel,
Weitere Kostenlose Bücher