Historical Saison Band 06
wobei seine Hände locker die Zügel umfassten. Seine Stärke und Eleganz ließen sie unerwartet erschauern. Auch ihre Hände bebten. Ihre Finger glitten von der rauen Rinde, und sie fasste erschrocken nach dem Ast. Die Blätter raschelten. Der Gentleman war inzwischen weitergeritten und befand sich nun genau unter ihr, schaute hoch und blickte sie direkt an.
Jetzt, wo sie ihn ganz aus der Nähe betrachten konnte, musste sie einräumen, dass er wirklich gut aussah. Sie hatte nicht viele zuverlässige Informationen über Viscount Townend einholen können, aber die mageren Berichte besagten, dass er mindestens dreißig Jahre alt war. Er galt als ausschweifend, und man behauptete, er trüge Unterhemden aus Flanell. Cassie ging allerdings davon aus, dass sich die beiden letzten Attribute gegenseitig ausschlossen, denn welche Frau mit Verstand würde sich wohl von einem Mann mit Flanellunterwäsche verführen lassen? Der Gentleman zu Pferde konnte also logischerweise nicht der Viscount sein, weil er viel zu jung und attraktiv für einen dekadenten Adligen war.
Nachdenklich musterte sie ihn. Seine blauen Augen wirkten wachsam und klug, und sie stellte sich vor, wie schön seine maskulinen Züge aussehen würden, wenn er lächelte. In diesem Moment lächelte er allerdings nicht. Genau genommen schaute er sie durchdringend an. Dass er sie derart interessiert anstarrte, verwirrte Cassie. Sie schluckte, und trotz des schlechten Wetters und des kalten Windes überlief sie ein heißer Schauer.
Mit einem Mal fiel ihr wieder ein, warum sie sich auf dem Baum befand, und sie beschloss, kein Risiko einzugehen, falls es sich bei dem Fremden doch um Viscount Townend handelte. Engagiert schwang sie das Spruchband und rief: „Brot für die Armen!“ Der Slogan klang aus ihrem Munde eher wie ein leises Krächzen und nicht wie der entschlossene radikale Aufschrei, den sie ursprünglich im Sinn gehabt hatte. Sie war sich nicht einmal sicher, dass der Gentleman sie überhaupt gehört hatte. Mit zur Seite gelegtem Kopf betrachtete er das Spruchband.
„Gold für die Armen?“, entzifferte er zweifelnd.
Cassie starrte auf das durchnässte Banner und rieb sich das Regenwasser aus den Augen. „Brot!“, korrigierte sie ihn verärgert. „Brot, um die Armen zu speisen!“
„Aha.“ Der Gentleman nickte. „Das macht mehr Sinn. Ich muss gestehen, dass mich die fehlenden Buchstaben etwas irritiert haben.“
Cassie krauste die Stirn. Sie fühlte sich selbst reichlich irritiert. Es passte nicht in ihren Plan, dass dieser Gentleman in aller Ruhe mit ihr über Buchstaben diskutierte, während sie beabsichtigt hatte, ihn mit ihrer skandalösen politischen Ansicht zu schockieren. Ständig sagte man ihr, dass radikale politische Meinungen ungeheuerlich waren. Daher hatte sie sich gar nicht vorstellen können, dass jemand darauf anders als empört reagieren würde. Sie versuchte es ein zweites Mal.
„Gleichheit und Gerechtigkeit!“, rief sie.
Der Gentleman lächelte und schien belustigt. Cassie war verwirrt. Ihr Verhalten schien ihn überhaupt nicht aufzuregen, geschweige denn zu schockieren. Ganz im Gegenteil, er schaute sie fasziniert und erwartungsvoll an. Mit seinen leuchtenden Augen fixierte er sie in einer Weise, die sie völlig aus dem Konzept brachte.
„Eine höchst ehrenwerte Forderung“, stimmte ihr der Gentleman zu. „Ich bin auch der Ansicht, dass Gerechtigkeit für alle gelten muss.“
„Sind Sie Viscount Townend?“ Sie gab alle Täuschungsmanöver auf und kam direkt zur Sache.
„Kommen Sie jetzt von diesem Baum herunter?“, konterte der Gentleman, wobei seine blauen Augen herausfordernd funkelten.
Cassie war ein wenig mulmig zumute. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass sie beim Hinabsteigen unweigerlich in seinen Armen landen würde und dass sie genau dorthin gehörte. Sie sah ihn an.
Das ist er also …
Sie bekam eine Gänsehaut, und am ganzen Körper wurde ihr zugleich heiß und kalt. Sie spürte, dass all ihre Sinne sensibilisiert waren. Das brachte sie derartig aus der Fassung, dass sie sich weder rühren noch sprechen konnte.
„Nun, was ist?“, erkundigte sich der Gentleman und hob auffordernd eine Hand.
Wieder stellte sich bei Cassie ein banges Gefühl ein. Das Spruchband wurde von einem plötzlichen Windstoß erfasst. Der Baum ächzte, die Äste knarrten, und sie versuchte, nach dem Stamm zu greifen. Doch sie griff ins Leere. Sie stürzte, wobei sich das nasse Spruchband um ihren Körper schlang, sodass
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