Historical Weihnachtsband Band 4
weil gleich darauf ihrem Mund wohlklingende Töne entströmten. Das Übrige war ein wahres Gejaule, das in ihm den Wunsch weckte, sich die Wärmflasche herunterzureißen und seinen armen Kopf ganz einfach platzen zu lassen, wenn es denn sein musste.
Doch dann fragte er sich wieder, ob er nicht alles nur träumte, denn die Worte, die der Engel sang, hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Weihnachtsliedern, die er kannte.
„ Gott steh’ Euch bei, Ihr lieben Herrn, Ihr werdet Ruhe brauchen.
Eure Taschen sind ganz leer, kein Fest könnt Ihr Euch gönnen, Der Hausherr hämmert an die Tür, des Krämers Wut wird rauchen.
Das Fest dies Jahr wird wohl sehr schmal, vergesst die Essenswonnen.“
Rafe schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können. Etwas an dem Ausdruck in ihren Augen ließ ihn vermuten, dass er doch alles richtig verstanden hatte. Es war, als hätte man die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt – der Baum, der Engel mit dem wunderschönen Gesicht, die albernen Reime. Ein Traum. Es konnte sich nur um einen Traum handeln. Er musste sich im Fieberwahn befinden, und sein Wahrnehmungsvermögen hatte darunter gelitten. Wie sonst sollte er sich das alles erklären? Er spürte die Folgen des Unfalls und jener widerlichen Gebräue, die sie ihm förmlich hineingeschüttet hatten.
Sie hörten lange genug mit ihrem Katzenlärm auf, um etwas an jeden zu verteilen, das wie Punsch aussah. Rafe war am Verdursten. Der Engel brachte ihm ein Glas, doch Cousine Hortense trat dazwischen, bevor er einen Schluck nehmen konnte. Die alte Schachtel bestand tatsächlich darauf, dass er Gerstenwasser zu sich nahm!
Wenigstens blieb der Engel bei ihm und half ihm dabei, es zu trinken – wie hieß das himmlische Geschöpf nur noch mal? Als er aufsah, war sie gerade dabei, ihn ein wenig zu eindringlich zu betrachten, und er erinnerte sich an ihre Verse. Plötzlich vergaß er sogar seinen heftigen Durst und auch alles andere – bis auf diese hinreißende Erscheinung.
Cousin Abner bat um ihre Aufmerksamkeit, setzte sich in einen Sessel neben dem glühenden Ofen und öffnete ein Buch.
„Marley war tot ...“, verkündete er mit dramatischem Schwung und stürzte sich danach auf die Lektüre jener Geschichte von Charles Dickens, die die Vorstellungskraft der Engländer vor Jahrzehnten gepackt hatte und inzwischen unverzichtbarer Teil der weihnachtlichen Tradition geworden war. Rafe hörte den schönen Engel neben sich leise stöhnen, und er brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass sie eine Meinung zum Ausdruck brachte und nicht nur zur dramatischen Wirkung der Lesung beitragen wollte.
Als sie ein recht leidenschaftliches „hört, hört“ an der Stelle hinzufügte, wo Scrooge verlangte, man möge ihm gefälligst gestatten, Weihnachten zu feiern oder auch nicht, ganz wie sein Gewissen es ihm gebot, sah Rafe sie bestürzt an. Was für ein Engel schlug sich auf die Seite von Ebenezer Scrooge und nicht auf die der Anhänger des Weihnachtsfestes?
„Nun ja, so ganz unrecht hat er nicht“, meinte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Man sollte niemanden zum Feiern zwingen, der unglücklich ist. Sie, zum Beispiel. Sicherlich können Sie seinen Standpunkt verstehen. Würden Sie nicht viel lieber in einem schönen, warmen Bett liegen, wo Sie sich ausruhen und erholen könnten, statt einem schlecht gestimmten Piano, unmusikalischen Sängern und einer Unmenge moralischen Geschwätzes lauschen zu müssen?“
„W...“ Seine Kehle war so trocken, dass er keinen Laut herausbekam und sich räuspern musste. „Wer sind Sie?“
„Claire Halliday. Die Verlobte des armen Stephen.“ Sie rückte näher heran und senkte die Stimme. „Er ist zu Weihnachten gestorben, wissen Sie. Bei einem Kutschunfall.“
Sie sah ihn mit ihren meergrünen Augen vielsagend an. „Genauso einem wie Ihrem.“
Aus irgendeinem Grund konnte Rafe nicht den Blick von ihr nehmen. Aber was wollte sie mit ihren Worten andeuten? Dass er auf der Schwelle des Todes stand?
Lieber Gott! Sein Herz setzte einen Schlag aus. Das stimmte nicht, oder doch?
Ihr entging seine Bestürzung offensichtlich nicht, denn sie wies auf seine Augen.
„Sind Ihre Augen immer so gelb?“
Entsetzt blinzelte er und schaute sich nach den anderen um, die aber alle in Cousin Abners Vortrag versunken schienen. Fast flehend heftete sich sein Blick auf Cousine Hortense, und er dachte an ihre erschreckend gründlichen Pflegemethoden. Sie schien doch zu glauben, er sei auf dem
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