Hochsaison. Alpenkrimi
eingesteckt. Niemand im Raum schien bemerkt zu haben, dass er geschossen hatte, der Lärm der telefonierenden und sonst wie durcheinanderschreienden Hautevolee war ohrenbetäubend, und alle waren mit sich selbst beschäftigt gewesen. Sein Objekt lebte, dafür wurde Jusuf bezahlt und für nichts anderes. Trotzdem war er beunruhigt. Was hatte das zu bedeuten? Die ganze Szene hatte sich in der Nähe der Tür abgespielt, die nach draußen in den Vorraum führte. Die VIP -Lounge war im untersten Stockwerk des Schiedsrichterturms untergebracht, und kaum jemand wusste von diesem Raum. Der Schiedsrichterturm selbst stand unmittelbar neben der Schanze in Höhe der Aufsprungbahn, hier waren die Punktrichter in schier mittelalterlichen Verschlägen eingesperrt. Oben auf der Terrasse des Turms tummelten sich die wichtigen, aber doch nicht ultrawichtigen VIPs – denn Letztere fand man eben nur unten in der geheimnisvollen Lounge. Hier bewegten sich die richtig großen Tiere, die auch gar keinen besonderen
Wert darauf legten, gesehen zu werden. Vom Vorraum führten drei Wege ins Freie. Es gab einen Weg zur Terrasse, einen hinunter zu den Tribünen und Würstelbuden, und einen dritten zum Anfahrtsweg für die Stretch-Limousinen und Bentleys. Alle drei Wege wurden äußerst streng bewacht, keine Chance, da ohne Aufsehen hinauszukommen. In jedem Fall musste die Flucht des Verletzten bemerkt worden sein. Es sei denn – er war gar nicht geflohen, er befand sich immer noch in der Nähe. Das war eine beunruhigende Vorstellung. Alarmstufe Orange.
Doch Jusuf schloss auch nicht aus, dass er den Mann überhaupt nicht getroffen hatte. Dass er durch den Rumpler des fetten Spaniers danebengeschossen hatte und der Mann im Anorak das im Getöse gar nicht mitbekommen hatte. Wenn es aber so war, musste die Kugel noch irgendwo herumliegen. Wenn er hingegen doch getroffen hatte, musste es Blutspuren geben. Vielleicht war der Mann in dem Skianorak mit dem SC
-Riessersee
-Aufdruck ja auch gar kein angreifender Eindringling, sondern VIP -Objekt oder auch – der größte anzunehmende Unfall – ein anderer Personenschützer. In beiden Fällen musste jemand auftauchen, der einen Verletzten zu beklagen hatte.
Langsam tröpfelten alle aus dem Saal. Die wenigen Verbleibenden waren so ins Gespräch vertieft, dass sie gar nichts um sich herum bemerkten. Ein hoher NATO -General und zwei Inderinnen (zumindest hatten die beiden kunstvoll bemalte Hände), der Landwirtschaftsminister von San Marino und ein alter Mann, den er nicht kannte. Und natürlich Kalim al-Hasid und Jacques Rogge, beide wohlauf. Jusuf ging ein paar Schritte auf die beiden zu.
»Alles in Ordnung?«, fragte er leise.
»Natürlich, alles o.k.«, antwortete Kalim zerstreut. Jusuf schlenderte scheinbar ziellos durch die VIP -Lounge, an den
Wänden entlang, so, als ob er sich langweilen würde. Er blieb ab und zu stehen. Er prüfte jeden Quadratzentimeter auf Spuren eines Querschlägers. Er suchte, weiterschlendernd, den Boden nach dem Projektil ab. Nichts. Er bewegte sich abermals durch den Raum und erforschte die Wand noch genauer, Zentimeter für Zentimeter. Wieder nichts. Jusuf kam zu der Stelle, wo der Mann gestanden hatte. Er kniete sich hin, und tat so, als binde er sich die Schnürsenkel. Zentimeter für Zentimeter untersuchte er den Boden, fuhr auch da und dort mit den Fingern über den dicken Teppich. Es musste doch hier irgendwo Blutspuren geben! Er hatte natürlich nicht die Ermittlungs- und Untersuchungsmöglichkeiten der Polizei. Aber er musste einen Versuch machen. An einer Stelle stand der Teppich etwas hoch. Das Teppichstück war dunkel verfärbt, er wollte das zu Hause genauer untersuchen. Unauffällig nahm er sein Schweizer Taschenmesser heraus und schnitt ein kleines Stück ab. Besser als nichts. Er steckte es in die Tasche. Gerade wollte er noch ein zweites Stück Teppich herausschneiden, da fiel ein Schatten über seine Hand.
»Hallo, Jusuf!«
Verdammter Teppichfußboden. Lautlos war jemand herangeschlichen und hatte sich vor ihm aufgebaut. Jusuf richtete sich auf. Es war Charles Benetti, ehemaliger Leibwächter und Ausbilder, jetzt Inhaber einer florierenden Schule für Sicherheitspersonal, einen neuen Pass und eine wasserdichte Identität gab es gratis dazu. Was früher die Fremdenlegion geleistet hatte, das machte jetzt Benetti.
»Hallo, Charles.«
»Du bist bei Kalim al-Hasid?«
»So ist es.«
Benetti zu fragen, bei wem er war, erübrigte sich. Er hatte
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