Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
brauchen?«, erkundigte er sich, nachdem sie die Stadtgrenze in Richtung Autobahn passiert hatten.
»Keine Ahnung. Es sind über zwanzig Kilometer«, schätzte Ackermann die Entfernung.
»Bei dem Wetter brauchen wir bestimmt eine halbe Stunde.« Kepplinger starrte auf die Uhr des Armaturenbretts. Es war genau sieben Minuten vor vier.
»Dann gnade ihm Gott«, sagte er mit einem Anflug von Resignation. »Wir können von Glück reden, wenn wir Gerd Jessen noch lebend zu Gesicht bekommen.«
Im Wagen fiel kein Wort mehr. Immer wieder mussten sie feststellen, welche verheerenden Ausmaße das Unwetter angenommen hatte: Überflutete Äcker und umgerissene Bäume. Winzige Bachläufe, die sich in reißende Flüsse verwandelt hatten. Lea beobachtete eine dichtgedrängte Gruppe von Pferden auf einer Koppel, die bis zu den Knien im Wasser standen. Die Tiere taten ihr leid, und sie war sich nicht sicher, ob alle Pferde schwimmen konnten. Nach fünfundzwanzig Minuten erreichten sie die Albhochfläche oberhalb von Wiesensteig. In letzter Sekunde erkannte Markus Ackermann die unbeleuchtete Absperrung auf der Straße, die in Richtung Burgruine führte.
»Verdammt!« Der Wagen kam wenige Zentimeter vor einem der Metallgitter zum Stehen. »Was jetzt?«
Kepplinger sprang aus dem Wagen und räumte die Hindernisse zur Seite.
»Fahr los!«, forderte er seinen Kollegen auf. »Sander muss hier durchgefahren sein.«
Kurze Zeit später erreichten sie den Wanderparkplatz. Darauf stand nur ein Wagen. Ein silberner Mercedes.
»Das ist er!«
Die Truppe streifte eilig ihre Schutzwesten über, entsicherte die Waffen und setzte sich im Schein der Taschenlampen in Bewegung. Eisiger Wind peitschte ihnen den Regen ins Gesicht. Kepplinger war innerhalb weniger Minuten völlig durchnässt. Er drehte sich zu Lea um, die hinter ihm lief. Ihr ging es offensichtlich nicht besser. Er wollte etwas sagen, aber eine Unterhaltung war unmöglich. Schweigend folgten sie Markus Ackermann einen schmalen Fußpfad hinab zum Wallgraben der Vorburg. Immer wieder tauchten Blitze die Umrisse der Ruine in helles Blau. Die Szenerie erinnerte an einen billigen Gruselfilm. Kepplinger schauderte bei der Vorstellung, was sich innerhalb der Burgmauern abspielte. Als sie das Haupttor erreicht hatten, teilten sie sich in Zweiergruppen auf. Markus Ackermann ritzte mit einem Stein den Grundriss der Burg in die Erde. Im Licht der Taschenlampen teilte er den Teams Abschnitte zu.
»Wenn irgendetwas sein sollte, gebt ihr einen Warnschuss in die Luft ab«, schrie er gegen den Wind an. »Wir haben keine andere Möglichkeit, uns zu verständigen.«
Kepplinger machte sich mit Lea auf den Weg über den Burghof zur äußeren Ringmauer. In einer kleinen, zerfallenen Kapelle leuchteten sie mit den Taschenlampen in die verwinkelten Ecken des Raumes.
»Hier ist nichts.«
Kepplinger blickte kurz aus dem Fenster. Der Anblick war furchteinflößend. Die Kapelle befand sich direkt auf der Außenmauer. Soweit der Strahl der Taschenlampe reichte, fiel die Mauer senkrecht in die Tiefe und versank in einem schwarzen Nebelmeer.
Sie liefen einen abfallenden Weg an der Burgmauer entlang. Von oben bemerkten sie in der Mitte eines Innenhofs einen alten Ziehbrunnen. Ein schmaler Treppenabgang führte dorthin. Vorsichtig tasteten sie sich die glitschigen Steinstufen hinab. Lea war um einiges eher am Fuß der Treppe angelangt. Als er unten ankam, hörte er die Stimme seiner Kollegin.
»Moritz, schau mal. Hier ist Blut.«
Er ging um den Brunnen und starrte auf den dunklen Fleck am Boden. Dann tastete er mit dem Finger nach der Flüssigkeit. »Scheint frisch zu sein.«
Lea schlug vor, die Taschenlampen auszuschalten.
Plötzlich durchschnitt ein gellender Aufschrei das Prasseln des Regens und die Windgeräusche.
»Da drüben!«, rief Kepplinger laut und zeigte auf den alten Wehrturm. Er zog seine Waffe und richtete sie auf den gewölbten Torbogen. Während sie sich dem Eingang näherten, vernahmen sie immer deutlicher die Geräusche des ungleichen Kampfes, der im Inneren vonstattenging. Die Intensität der Schreie ließ keinen Zweifel an Sanders Absichten aufkommen. Im Schutz der Dunkelheit arbeiteten sie sich bis an den Eingang heran. Lea stand auf der gegenüberliegenden Seite des Zugangs. Kepplinger zögerte, da er nicht sah, ob sie ihre Waffe in der Hand hielt. In dieser Situation konnte er sie unmöglich danach fragen. Aus dem Raum drang ein lautes Röcheln. Kepplinger beschloss, nicht länger
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