Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
zu warten. Er schaltete die Taschenlampe an und stürmte hinein.
»Sofort aufhören – Polizei.«
Gerd Jessen lag zusammengekrümmt am gegenüberliegenden Ende des Raumes am Boden. Von Erich Sander war nichts zu sehen. Aber er musste da sein. Kepplinger ging rasch auf Jessen zu, kniete schützend vor ihm in die Hocke und schwenkte den Lichtkegel seiner Lampe wieder in die Raummitte. Wo war Lea?
»Herr Sander, geben Sie auf!«
Nichts rührte sich. Gab es womöglich eine Fluchtmöglichkeit?
Plötzlich nahm er den Schatten hinter einem Mauervorsprung war. Sander sprang wie ein aufgescheuchtes Raubtier dahinter hervor. Im selben Moment trat Lea in den Raum.
»Pass auf!«, schrie Kepplinger.
Aber es war bereits zu spät. Sander schlug Lea ins Gesicht, stürmte ins Freie und verschwand in der Dunkelheit. Lea rappelte sich auf und stöhnte vor Schmerzen.
»Ich bin okay.«
»Er hat ein Messer«, röchelte Jessen.
»Komm, wir holen uns den Mistkerl«, fluchte Lea und machte sich auf den Weg.
»Warte!«, rief Kepplinger. Er beugte sich über Jessen.
»Meine Kollegen kommen sofort. Wir verständigen einen Krankenwagen.«
Jessen nickte dankbar.
Dann folgte er Lea ins Freie und gab einen Signalschuss ab.
Wenig später tauchten Markus Ackermann und Nils Schubert am Eingang des Wehrturms auf.
»Was ist passiert?«, erkundigten sie sich aufgeregt.
»Da drin liegt Jessen«, sagte Kepplinger. »Er ist schwer verletzt. Ruft einen Krankenwagen und bleibt bei ihm. Wir suchen Sander. Er ist abgehauen!«
»Wartet, bis Verstärkung da ist!«, mahnte Ackermann.
»Dann ist er weg«, erwiderte Kepplinger und verschwand in der Dunkelheit.
Lea befand sich bereits auf Höhe des Ziehbrunnens. Das Unwetter tobte mit unveränderter Härte über den Burghof. Moritz begann sofort wieder zu frieren.
»Wo sollen wir anfangen?«, brüllte Lea.
»Er kann die Ebene hier nicht verlassen haben«, schrie er gegen den Wind an. »Sonst wäre er Ackermann in die Arme gerannt!«
»Dann beginnen wir bei der Treppe, in Ordnung?«
»Ja. Aber wir bleiben zusammen und schalten die Lampen aus. Er hat ein Messer!«
Lea verstand und steckte ihre Taschenlampe ein. Kepplinger trat nahe an seine Kollegin heran.
»Warte einen Moment, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben.«
Lea nickte.
»Was denkst du?«, wollte sie nach ein paar Sekunden wissen.
»Ich versuche mir vorzustellen, was er als Nächstes tut.«
Tatsächlich dachte er in diesen Momenten an den Unterricht seines ehemaligen Kriminologiedozenten. Welches Wissen über Sander hatte er in den letzten Stunden dazugewonnen? Er hatte auf dieser Burganlage seine Tochter verloren und Jessen, der seiner Meinung nach für ihren Tod verantwortlich war, hierher gebracht und aufs Übelste zugerichtet. Vermutlich hatten sie Sander in letzter Sekunde daran gehindert, Jessen in die Tiefe zu stoßen. Jetzt befand er sich im Schutz der Polizei. Sander hatte seinen teuflischen Plan nicht zu Ende bringen können. Was blieb ihm nun? Sander musste sich klar darüber sein, dass er früher oder später von der Polizei gefasst werden würde. Für einen Moment glaubte Kepplinger, in die Seele des Mörders blicken zu können.
»Lea«, flüsterte Moritz. »Ich glaube, er will sich selbst in die Tiefe stürzen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Das erkär ich dir später. Los, komm!«
»Wohin denn?«
»In die Kapelle.«
Kurze Zeit später erreichten sie den Eingang. Dieses Mal stimmten sie sich vor dem Betreten ab.
»Wir gehen gleichzeitig rein«, sagte Kepplinger.
»Ich halte mich rechts zum Fenster hin. Du achtest auf den übrigen Teil des Raums.«
»In Ordnung«, erwiderte Lea.
Die Windgeräusche verstummten mit einem Schlag, als sie in den Innenraum der Kapelle traten. Die Lichtkegel der Taschenlampen durchstreiften den Raum. Sander war nirgends zu sehen.
Hatte er sich getäuscht? Kepplinger zweifelte an seiner Eingebung. Trotzdem hatte er das Gefühl, der Täter befände sich ganz in seiner Nähe. Zum Greifen nahe.
Vorsichtig trat er einen Schritt zurück. Lea tat es ihm gleich.
»Herr Sander, hier ist die Polizei. Wir wissen, dass Sie hier sind!«
Keine Reaktion.
»Es ist vorbei. Geben Sie auf!«
Plötzlich tauchte Sander im Lichtschein der Taschenlampe auf und sah ihn mit dämonischem Blick an. In der Hand hielt er ein großes Fahrtenmesser. Die Klinge schimmerte dunkelblau im Widerschein des künstlichen Lichts.
»Nichts ist vorbei!«, brüllte Sander und setzte sich in
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