Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
auf die Fensteröffnung, die sich längst außerhalb ihrer Reichweite befand.
Als ihr Körper kurz vor dem Aufprall die Wipfel der Bäume berührte, spürte sie bereits nichts mehr.
Das Gesicht blieb wie durch ein Wunder unverletzt.
Als sie später gefunden wurde, sah es so aus, als ob sie lächeln würde.
Als ob es ein schöner Tag gewesen wäre.
Ein schönes Spiel.
FREITAG
19. Juli 2013
D er ehemalige SEK -Beamte und frischgebackene Kriminalkommissar Moritz Kepplinger trug die verbliebenen Gepäckstücke aus der kleinen Studentenbude, in der er die vergangenen zweieinhalb Jahre seines Studiums an der Hochschule der Polizei verbracht hatte. Er schleppte die schweren Taschen voller Bücher bis vor die Tür des Treppenhauses. Dann wischte er sich mit dem Handrücken einen Schweißtropfen von der Stirn und kehrte ein letztes Mal um.
Der Sommer schien nun richtig in die Gänge zu kommen. Moritz trug ein braunes T-Shirt, passende Karo-Shorts und weiße Sneakers. Im Zimmer warf er einen letzten prüfenden Blick ins Bad, zupfte einen Fussel vom Teppichboden und öffnete anschließend das Fenster über dem Schreibtisch. Der Blick hinab auf das Hochschulgelände löste ein Gefühl der Vertrautheit aus. Wie eine schöne Kindheitserinnerung. Liebevoll musterte er das Lehrsaalgebäude, das wie ein riesiger Campanile zwischen den sechs ringförmig angeordneten Unterkunftsgebäuden herausragte. Der Elfenbeinturm, dachte er und musste lächeln. Dahinter konnte man einen Teil der Kantine und das Dach der Sporthalle erkennen. Links davon das rote Oval der Vierhundert-Meter-Bahn, auf der er oft gelaufen war. Er erinnerte sich daran, wie er während des Examens bis spät in die Nacht gelernt hatte. Bevor er anschließend zu Bett ging, hatte er regelmäßig zehn Stadionrunden in völliger Dunkelheit absolviert. Danach konnte er schlafen. Einmal war er beinahe mit einem anderen Studenten zusammengestoßen, der dieselbe Idee gehabt hatte und in entgegengesetzter Richtung lief.
Er schloss das Fenster und setzte sich auf das Bett. In der Hand hielt er einen Schnellhefter, in dem sich alle Bachelorunterlagen befanden, die er bei der gestrigen Abschlussfeier erhalten hatte. Stolz las er zum wiederholten Mal den Text der Ernennungsurkunde, die auf dicken Karton gedruckt war:
Ich ernenne
Herrn Kriminalhauptmeister
Moritz Kepplinger
geb. 17.02.1980
mit Wirkung vom 18.07.2013
zum
Kriminalkommissar
Darunter befanden sich ein Siegel des Landes Baden-Württemberg und die Unterschrift des Rektors der Hochschule in Villingen-Schwenningen.
Moritz Kepplinger legte die Mappe zur Seite und betrachtete eine helle Stelle an der gegenüberliegenden Wand, wo bis gestern ein gerahmter Kunstdruck der Proportionsstudie Vitruvian von Leonardo da Vinci gehangen hatte. Jetzt erkannte er deutlich, wie sich die Raufaser entlang der Ränder des Bilderrahmens dunkel verfärbt hatte. Er musterte die übrigen Wände im Raum und bemerkte noch weitere solcher Abdrücke.
Alles hat sich verfärbt, dachte er. Vermutlich werde ich dieses Zimmer nie mehr betreten. Ist das alles, was nach meiner dreißigmonatigen Anwesenheit von mir zurückbleibt? Eine graue Patina an den Wänden und eine Erinnerung, die zunehmend verblassen wird? Warum fällt es mir immer so schwer loszulassen?
Er verdrängte die düsteren Gedanken und dachte daran, dass er endlich geschafft hatte, was er sich vom ersten Tag seiner Einstellung in den Polizeidienst an vorgenommen hatte. Er dachte an die schwierige Zulassungsprüfung, die dem Studium vorausgegangen war, die Anspannung zu Beginn des ersten Semesters. Daran, dass nach diesem Wochenende ein neuer Abschnitt seiner Polizeiarbeit beginnen würde. Seine Gedanken schweiften zu seiner neuen Wohnung in Göppingen, die er in den kommenden Tagen einrichten musste.
Noch einmal ging er durch den Raum und sah in allen Schubladen und Schränken nach, ob er etwas vergessen hatte. Er öffnete sogar den Bettkasten, obwohl er ihn nie benutzt hatte. Alles war sorgfältig leergeräumt. Zuletzt hob er die gummierte Schreibtischunterlage an, die zum Inventar des Zimmers gehörte. Darunter lag das Foto einer jungen, hübschen Frau mit blonden, schulterlangen Haaren. Das Bild zeigte sie im Halbprofil. Den Kopf leicht zur Seite geneigt blickte sie lächelnd in Richtung des Betrachters. Er seufzte.
»Dich habe ich beinahe vergessen«, murmelte er.
Die Vorstellung, dass er und Valerie getrennt waren, tat immer noch weh. Sie hatte ihn am Wochenende
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