Hochzeit im Herbst
wie sie es vielleicht vor ein paar Monaten noch getan hätte, wenn ein so männlicher Mann wie er sie angefasst hätte. „Sie sind der Schwager mit der Farm, nicht wahr?”
„Richtig. Sie haben es erraten, Rebecca. Aber Sie sehen nicht aus wie eine Frau Doktor, zumindest nicht auf den ersten Blick.”
„Finden Sie?” Sie warf ihm einen kühlen Seitenblick zu. Einen Blick, den sie vor dem Spiegel lange eingeübt hatte. „Im Gegensatz zu der Frau, die wahrscheinlich in die nächste Damentoilette verschwunden ist, um sich die Schweißperlen von der Stirn zu wischen?”
„Es lag an den Schuhen”, erklärte Shane lächelnd und warf einen vielsagenden Blick auf Rebeccas flache schwarze Schuhe aus Segeltuch.
„Ich verstehe.” Während sie im Aufzug nach unten zur Gepäckausgabe fuhren, musterte sie ihn verstohlen aus den Augenwinkeln: Flanellhemd mit offenem Kragen, ausgewaschene Jeans, ramponierte Stiefel, große, kräftige Hände. Unter der Baseballkappe schaute dichtes schwarzes Haar hervor, und das sonnengebräunte Gesicht hätte sich auf jedem Poster bestens gemacht.
„Dafür sehen Sie aus wie ein Farmer”, entschied sie. „Wie lange fahren wir bis Antietam?”
Noch im Zweifel, ob er ihre Bemerkung als Kompliment oder als Beleidigung auffassen sollte, antwortete er: „Knapp anderthalb Stunden. Wir holen nur noch rasch Ihre Koffer.”
„Nicht nötig. Ich lasse sie mir nachschicken.” Stolz auf ihr praktisches Denken, klopfte sie auf ihre Reisetasche. „Das ist das Einzige, was ich im Moment bei mir habe.”
Shane wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass sie ihn nicht aus den Augen ließ und aus jeder seiner Bewegungen einen Rückschluss zog.
Plötzlich kam er sich vor wie ein Insekt unter einem Mikroskop. „Großartig.”
Er fühlte sich erleichtert, als sie eine Sonnenbrille aus ihrer Jackentasche zog und sie aufsetzte.
Nachdem sie seinen Truck erreicht hatten, warf sie erst einen kurzen Blick auf den Wagen, dann auf ihn. Sie lächelte kühl, schob ihre Sonnenbrille ein Stückchen nach unten und musterte ihn eingehend über die Ränder der Gläser hinweg. „Ach übrigens, Shane, eins noch …”
Da sie nicht gleich weitersprach, zog er fragend die Augenbrauen hoch.
„Ja?”
„Niemand nennt mich Becky.”
Damit rutschte sie auf ihren Sitz, schnallte sich an und stellte ihre Reisetasche ordentlich zu ihren Füßen auf den Boden.
Rebecca genoss die Fahrt. Shane MacKade hatte einen sicheren Fahrstil. Dass sie ihn ein klein wenig beschämt hatte, verschaffte ihr ein leises Triumphgefühl. Nur ein ganz leises, aber immerhin. Männern wie ihm musste man rechtzeitig die Grenzen aufzeigen.
Fast so lange sie denken konnte, hatte sie sich einschüchtern lassen. Das war erst in den letzten beiden Monaten anders geworden. Seit dieser Zeit lernte sie langsam, sich nicht nur in ihrem Beruf, sondern auch im täglichen Leben zu behaupten. Und eben hatte sie noch einen weiteren Schritt in diese Richtung gemacht.
Falls er verärgert war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er plauderte unbeschwert, als sei nichts gewesen – was sie ihm hoch anrechnete. Das Radio dudelte leise vor sich hin, und Rebecca warf ab und zu einen Blick auf die Landschaft, die draußen an ihr vorbeizog. Es war ein hübsches Bild: zwischen sanfte Hügel eingebettete Farmen, Weideland und Bäume, deren üppiges Grün noch nicht verblasst war, obwohl sich der Sommer langsam seinem Ende zuneigte, hin und wieder ein grasendes Pferd oder eine Kuh.
Die Fahrerkabine des Trucks wirkte aufgeräumt. An den Polstern klebten ein paar helle Hundehaare, und der Geruch nach Hund hing in der Luft.
Unter einer Magnetklammer am Armaturenbrett klemmten einige Notizzettel, und im Aschenbecher lag eine Handvoll Münzen. Al es erweckte einen sehr ordentlichen Eindruck.
Vielleicht entdeckte sie deshalb den kleinen goldenen Ohrring, der zur Hälfte unter der Fußmatte hervorlugte. Sie bückte sich und hob ihn auf.
„Ist das Ihrer?”
Shane warf einen Blick darauf und erinnerte sich daran, dass Frannie Spader Ohrringe getragen hatte, als er das letzte Mal mit ihr … eine Spazierfahrt unternommen hatte.
„Er gehört einer Freundin. Sie muss ihn wohl verloren haben.” Shane streckte die Hand aus. Nachdem Rebecca den Ohrring hineingelegt hatte, ließ er ihn achtlos in den Aschenbecher zu den Münzen fallen.
„Sie wird ihn zurückhaben wollen”, bemerkte Rebecca. „Schließlich hat er vierzehn Karat.” Sie schwieg einen
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