Hochzeit im Herrenhaus
lächelnd. “Zuerst möchte ich mit ihr nach Devonshire fahren. Ich fand nämlich heraus, dass ihrem Galan diese Reisepläne missfallen. Und ich habe das Gefühl, sein Protest hängt keineswegs mit der drohenden Trennung von Helen zusammen.”
“Wie interessant!” Annis beugte sich sichtlich fasziniert vor. “Meinst du, er hat Angst, du würdest in Devonshire diffamierende Neuigkeiten über ihn erfahren?”
“Du hast es erraten. Um die Wahrheit zu gestehen, das hoffe ich sogar. Gelegentlich erwähnte Mr. Draycot, er sei kurzfristig dort gewesen. Allerdings weiß ich nicht, ob er in Okehampton war, wo Helens Freundin mit ihren Eltern lebt. Wie auch immer, er drängt meine Nichte unentwegt, den Besuch abzusagen, mit der Begründung, er würde nicht einmal ein paar Tage ohne ihre Gesellschaft ertragen. Bisher hat sie seinen flehenden Bitten widerstanden. Sie will die Einladung nach wie vor annehmen.”
In diesem Moment erklangen Stimmen in der Halle, und Ihre Ladyschaft hob den Kopf.
“Wenn mich nicht alles täuscht, hat Helen auf ihrem Spaziergang im Park wieder einmal Mr. Draycot getroffen – natürlich rein
zufällig”
, fügte sie ironisch hinzu. “Und falls mich meine Ohren nicht trügen, hat sie ihn zum Tee eingeladen. Nun kannst du seinen Charakter selbst beurteilen, Annis. Aber nimm dich in Acht. Helen erwartet nicht, dich hier zu sehen. Also musst du ihr erklären, du hättest dich ganz spontan zu diesem Besuch entschlossen. Auf keinen Fall darf sie erfahren, dass dich mein Brief dazu bewogen hat.”
Unter dem Eindruck der kurzen Begegnung mit Mr. Daniel Draycot beendete Annis ihren Aufenthalt in Bath schon zwei Tage später und fuhr in einer gemieteten Postkutsche durch Hampshire. Diese Grafschaft hatte sie nie zuvor bereist.
Normalerweise hätte ihr Interesse der Umgebung gegolten, obwohl die Landschaft um diese frühe Jahreszeit nicht besonders sehenswert wirkte. Aber Annis kannte nur einen einzigen Gedanken – ihr Ziel möglichst schnell zu erreichen. Leider hatte sich das Wetter seit ihrer Abreise aus Bath verschlechtert. Unter einem düsteren Wolkenhimmel peitschte ein bitterkalter Ostwind Regentropfen gegen die Wagenfenster.
“Hätte ich bloß zwei Zimmer in der letzten Poststation genommen, statt den törichten Entschluss zu fassen, noch heute im Greythorpe Manor anzukommen!”, klagte sie, zu ihrer Reisegefährtin gewandt. “Nachdem Sie ebenso wie der Kutscher Schneefälle vorausgesagt haben …”
“Immerhin hatten Sie einen guten Grund, meinen Ratschlag zu ignorieren, mein Lämmchen”, entgegnete Eliza Disher, ihre stets loyale Zofe und Gesellschafterin. “Wie unangenehm Sie den Auftrag finden, den Lady Pelham Ihnen erteilt hat, ist mir nicht entgangen. Je früher Sie die Tortur hinter sich bringen, desto besser.”
“Vorausgesetzt, Seine Lordschaft wird mich empfangen”, gab Annis zu bedenken. Die Möglichkeit, dass er sie abweisen ließ, bestand durchaus. Und dann wäre die beschwerliche Fahrt umsonst gewesen. “Gewiss, ich habe ein Empfehlungsschreiben von Lady Pelham bei mir. Aber ob es mir eine Unterredung mit dem Viscount verschaffen wird, bleibt abzuwarten. Zudem ist es eine sehr persönliche Angelegenheit, die ich mit ihm besprechen will. Vielleicht weist er mir die Tür, bevor ich ihm sämtliche Argumente meiner Patentante erklärt habe.”
“Sie können nicht mehr tun, als in Ihrer Macht steht, Miss Annis”, meinte Eliza aufmunternd, und die junge Frau, der sie vor fast vierundzwanzig Jahren ans Licht der Welt verholfen hatte, belohnte sie mit einem liebevollen Lächeln. “So gut wie ich kennt Sie niemand. Deshalb weiß ich – wenn Sie’s für falsch hielten, den Wunsch Ihrer Ladyschaft zu erfüllen, würden Sie jetzt nicht in dieser Kutsche sitzen.”
Ja, das stimmt, dachte Annis. Seit sie denken konnte, bewunderte sie ihre Patentante. Seit vielen Jahren verwitwet, war Henrietta Pelham intelligent und warmherzig, eine Dame, die sich stets freundlich um sie gekümmert hatte, vor und nach dem Tod der geliebten Mutter.
Dafür wollte Annis ihr danken, indem sie die unerfreuliche Mission auf sich nahm. Dazu hatte sie sich erst nach reiflicher Überlegung entschlossen.
“Wenn ich meinem Gefühl vertrauen darf, beurteilt meine Patentante diesen Mr. Draycot völlig richtig, Eliza”, wandte sie sich wieder an ihre Begleiterin. “Zweifellos ist er ein Schurke. Sie braucht nur noch genug Zeit, um seinen wahren Charakter zu entlarven und …”
Als der Wagen
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