Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
die widerstrebende Roya mit
sich. Als die den halben Weg zurückgelegt hatten, sprühte ihnen
ein leichter Nieselregen in die Gesichter. Die Luft war kalt geworden und die grauschwarze Wolke wirkte, als sammelte sie gerade
Kraft. Ihr zögernder Marsch auf den seltsamen, turmartigen Tempelbau zu war eine Mischung aus Royas Widerstreben und Alinas
Drang nach vorn. Der Nieselregen wurde stärker und die schwarzen Gewitterwolken über ihnen grollten böse. Noch erhob sich
kein schwarzer Schatten des rächenden Ulfa über der Festung, so
wie es Leandra damals ergangen war. Alina konnte sich langsam
vorstellen, auf welche Weise Leandra damals ihr Leben preisgegeben hatte, als sie in jenem eiskalten Gewittersturm völlig nackt
den gesamten Innenhof überquert hatte, um sich vor dem alten
Tempelbau in einer Geste der Demut vor dem Schatten des rächenden Ulfa zu verbeugen und ihn um Verzeihung für das Unrecht zu bitten, das die Menschen den Drachen angetan hatten.
Doch dieser Akt war bereits geleistet worden. Er musste gewiss
nicht wiederholt werden. Und wenn Ulfa das war, was Alina sich
von ihm erhoffte und erwartete, dann würde er sogar Roya ihren
verzweifelten Zorn vergeben. Das Mädchen hatte nur das Leben
eines Freundes retten wollen. Alina blieb stehen.
»Ulfa!«, rief sie, so laut sie konnte. »Ulfa – ich bitte dich, beende dieses Unwetter! Wir brauchen deine Hilfe!«
Seltsamerweise schien die Zeit still zu stehen. Obwohl der Regen weiterhin fiel und die Gewitterwolke über ihnen aufleuchtete
und ihr tiefes Rumpeln über die Festung schickte, war es, als
würde alles innehalten, als hätte eine höhere Macht Alinas Ruf
vernommen und würde eine Entscheidung abwägen. Der Zustand
über der Festung hielt für eine eigentümlich anmutende Minute
an. Dann ließ der Regen nach.
Ein winziges bisschen mehr Helligkeit drang zu ihnen. Und mit
einemmal kam ein Zauber über sie – so etwas wie eine Aufforderung in ihren Köpfen, obgleich mit einem Unterton der Drohung
und der Mahnung zur Vorsicht, die Festung zu betreten. Sie sollten… die Halle des Urdrachen aufsuchen.
Sie spürten es beide und sahen sich kurz an. »Los jetzt«, flüsterte Alina. Sie eilte los und zog die angsterfüllte Roya mit sich.
Noch immer sprühte ihnen der kalte, feine Regen ins Gesicht, und
allein er war Grund genug, den großen Tempelbau zu erreichen.
»Nun komm schon!«, verlangte Alina ungeduldig.
»Ulfa wird Verständnis haben. Ein Wesen wie er wird seine Hilfe
nicht wegen einer…
Unhöflichkeit verweigern. Unsere ganze Welt braucht ihn jetzt!«
»Eine Unhöflichkeit? Ich habe ihn beschimpft und verflucht!«
Alina ließ sich nicht beirren. »Und wenn schon! Du musst jetzt
den Mut haben, es durchzustehen. Es wird nicht besser, wenn du
vor dieser Sache davonläufst. Komm jetzt!«
Sie zog Roya wieder mit sich und dankte den Kräften, dass sie
es geschehen ließ.
Sie erreichten das große, alte Tempelportal und schritten hinein.
Es war nicht gerade ein Gefühl des Willkommens, das sie hier
begrüßte, aber wenigstens kamen sie aus dem Regen heraus.
Nach einem kurzen Zögern wirkte Roya eine kleine Magie.
Ober ihnen in der Luft entstand ein kleiner, glühender Funke,
ein schwebendes Licht. In dem fahlen Glimmen öffnete sich vor
ihren Augen der Blick in eine uralte, verfallene Halle mit Treppen
und Durchgängen in andere Gebäudeteile. Roya wäre am liebsten
gleich wieder umgekehrt.
»Die Halle des Urdrachen«, flüsterte Alina. »Wir müssen die
Halle des Urdrachen finden!«
*
Es war nicht einfach. Eine gute Stunde irrten sie durch die weitläufigen unteren beiden Stockwerke, ehe sie zwischen Trümmerblöcken, Schutt und Luftwurzeln einen Zugang nach oben fanden.
Unten gab es zwar auch Hallen, aber keine davon wies irgendwelche Merkmale auf, die auf den Urdrachen hindeuteten.
Der Regen über der Festung hielt nach wie vor an; immer wieder kamen sie an Stellen vorbei, wo das Dach eingebrochen war
und sie einen neuerlichen unfreiwilligen Guss abbekamen. Es war
dunkel in den Gängen und Roya hielt die ganze Zeit über ihre
Magie des schwebenden Lichts aufrecht. »Das war das Erste, was
ich nach Hammagor gelernt habe!«, sagte sie vieldeutig. »Leandra hat es mir beigebracht.«
Sie arbeiteten sich weiter vor, tappten durch dunkle Gänge, deren Mauern aus riesigen, groben Gesteinsblöcken gefügt waren,
durchquerten kleine und große Hallen und schritten über Treppen
weiter hinauf. Das alte Mauerwerk war überall völlig
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