Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
Alina bisher erlebt hatte. Sie flogen entlang der
Küstenlinie des Mogellsees nach Norden. Manchmal schoss Tirao
so knapp über der Wasseroberfläche dahin, sodass Alina glaubte,
nur eine Hand ausstrecken zu müssen, um einen Fisch fangen zu
können. Dann flog er wieder ein Stück landeinwärts, um einen
Stützpfeiler zu umrunden oder durch einen der spektakulären
Felsbogen hindurchzuschießen, die sie immer wieder entdeckten.
Der Wind zerrte an ihr und hätte sie sicher irgendwann ausgekühlt, aber sie hatte sich in Malangoor einen dicken Lederwams
geliehen und ertrug den ungewohnten, stetigen Wind recht gut.
Nach drei Stunden des Flugs machten sie eine einstündige Pause
auf einer winzigen Felseninsel. Während Tirao und Majana sich
auf Nahrungssuche begaben, gönnten sich Alina und Roya ein
Bad im kühlen Wasser des Mogellsees und sonnten sich anschließend ein wenig auf dem warmen Fels. Sie berichteten sich gegenseitig von den vielen Dingen, die ihnen im vergangenen Jahr widerfahren waren. Gegen Mittag kehrten die Drachen zurück und
dann ging es weiter. Für zwei Stunden flog Alina allein auf Majanas Rücken, dann wurde das junge Drachenmädchen müde und
Alina stieg wieder auf Tiraos Rücken um.
Im Laufe des Flugs erwies sich Roya als echte Anwärterin auf
den Titel >beste Freundin<. Alina konnte seit langer Zeit zum
erstenmal jemandem vollständig ihr Herz ausschütten; natürlich
erzählte sie viel über sich und ihre, wie sie sich ausdrückte, kaum
erklärbare Liebe zu Victor. Doch Roya brachte Verständnis auf,
denn sie kannte Victor gut. Sie erzählte ihrerseits einiges über
ihre Abenteuer mit ihm und trug ihre Geschichten dabei so witzig
vor, dass Alina während des Fluges Tränen lachte. Die Zeit verging dadurch viel schneller, und plötzlich, am späten Nachmittag,
hatten sie es geschafft – sie erreichten Bor Akramoria.
Aus der Ferne war ein dunkles Grollen aufgekommen, das sich
mit dem Zischen und Pfeifen des Flugwindes vermischt hatte. Aus
ihrer Unterhaltung aufgeschreckt, sahen sie beide nach vorn. Die
gute Fernsicht hatte sich, das merkten sie erst jetzt, im Laufe der
letzten halben Stunde unmerklich in aufkommendem hellem
Dunst verloren. Und nun schälte sich plötzlich aus dem milchigen
Nichts vor ihnen der Anblick eines gigantischen Wasserfalls.
33
Das magische Siegel
Leandra hatte einmal erzählt, dass einen nichts auf den Anblick
dieses Wasserfalls vorbereiten könnte. Und nun war Alina bereit,
jedes Wort davon zu unterschreiben. Sie waren bereits viel näher,
als sie es für möglich gehalten hätte. In der Nähe des Wasserfalls
war die Luft von feinem Nebel erfüllt. Erst wenn man hindurch
war, konnte man die titanische Wand aus Wasser erkennen. Alina
schnappte nach Luft, als sie sah, wie sich Majana vor der Wasserwand in eine Kurve legte und quer zu ihr nach Nordosten
kreuzte. Sie wirkte so winzig wie eine kleine Mücke. Die Dimensionen waren unglaublich. Alina schätzte, dass sie etwa zwei Meilen über dem See flogen, aber die tosende Wasserwand musste
über ihnen noch eine weitere Meile in die Höhe ragen.
Das Donnern der Wassermassen war Ehrfurcht gebietend. Erst
nachdem sie aus dem Nebel aufgetaucht waren, hatte es seine
wirkliche Lautstärke erlangt, und nun erschlug es sie beinahe.
Alina wurde schwindelig, sobald das titanische Tosen sie erfasste.
Als sie Tirao wieder ein Stück davontrug, atmete sie unwillkürlich
auf.
»Die Ishmarfälle sind über dreißig Meilen breit!«, schrie ihr
Roya von hinten zu. »Es sollen insgesamt mehr als fünfzig einzelne Wasserfälle sein. Die größten, die es gibt!«
»Und… wo kommt all das Wasser her?«, rief Alina zurück.
»Weiß ich nicht. Das weiß niemand.« Sie kreuzten noch eine
Weile staunend vor der riesigen Wasserwand, während die beiden
Drachen weiter nach Nordwesten segelten und an Höhe gewannen. Endlich, nach etwa einer halben Stunde, kam die obere Kante eines der Wasserfälle in Sicht. Und dort wartete das nächste
Wunder auf sie. Aus einer Hut herabdringenden Lichts schälte
sich ein Felsen, ein gewaltiger Zinken, der mitten aus der Kante
eines breiten Wasserfalls herausragte.
Roya deutete hinauf. »Das muss es sein! Bor Akramoria!«, rief
sie.
Nun sah Alina es auch. Ein einzelnes Bauwerk erhob sich dort
und schwang sich auf abenteuerliche Weise mit seiner Vorderseite
über den Abgrund hinweg. Spontan dachte sie, dass es wohl
kaum einen würdigeren Platz als Heimat für den Urdrachen
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