Hoellenfeuer
fragte sie.
„Ich fürchte, ich habe alle Schulen in unserer Umgebung durch“, erwiderte Eleanor mit einem bitteren Lachen. „Aber es ist ziemlich egal, wohin ich komme. Überall sehen die Leute eine Außenseiterin in mir und behandeln mich so. Solange sie mich einfach nur ignorieren ist es noch in Ordnung. Aber andere stürzen sich mit Vorliebe auf mich, weil sie schnell erkennen, dass man mich leicht aus der Fassung bringen kann. Mittlerweile habe ich Angst unter Leute zu gehen. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass ich jetzt neben dir gehe und mit dir spreche.“
Eine kurze Weile sagte Bess kein Wort. Dann wandte sie sich lachend an Eleanor und sagte: „Dann bin ich froh, dass du dich bei mir überwinden konntest. In meinen Augen bist du keine Außenseiterin – zumindest nicht, weil du in diesem Sanatorium bist. Das bin ich schließlich auch.“
Eleanor blickte Bess an. Dann lächelte auch sie.
Die beiden spazierten weiter durch den Park und unterhielten sich. Langsam begann Eleanor aufzutauen. In Bess' Gegenwart schien ihr die Welt um einiges leichter zu sein. Sie stellten schnell fest, dass sie denselben Musikgeschmack hatten und allein das brachte genug Gesprächsstoff für eine ganze Weile. Bess kam aus der Gegend um Stratton und hatte ihr ganzes Leben hier verbracht. Sie war interessiert an Eleanors Geschichten aus London und stellte selbst viele Fragen.
So verging der Vormittag. Der Regen hatte endlich nachgelassen, doch der Himmel war nach wie vor mit einer dicken grauen Wolkendecke verhangen, die das Licht des Tages auch zu dieser Tageszeit fast gänzlich schluckte und die Welt in ein finsteres Zwielicht tauchte. Doch die beiden merkten es nicht, bis Bess auf die Uhr sah und mit einem Seufzen meinte: „Mittagszeit. Wir sollten ins Haus gehen. Bei diesem Wetter verliert man jedes Zeitgefühl.“
So bewegten die beiden sich auf einem breiten Kiesweg unter Bäumen entlang auf das Haupthaus zu. Als sie noch etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt waren , wies Bess auf zwei Gestalten, die sich ebenso wie sie auf das Haus zu bewegten und es bereits fast erreicht hatten. Eleanor sah einen Pfleger, der einen Patienten im Rollstuhl vor sich her schob.
„Dort ist Nummer Sieben “, sagte Bess. „Offenbar hat der Pfleger keine Lust mehr...“
„Nummer Sieben?“, fragte Eleanor irritiert. „Der Mann im Rollstuhl? Warum heißt er so?“
„Niemand hier weiß, wie er wirklich heißt“, erwiderte Bess. „Er wird allgemein nach seiner Zimmernummer so genannt. Ich weiß nur, dass er schon seit Jahren hier ist, aber seine Geschichte kennt niemand. Er spricht nicht.“
„Er spricht nicht? Niemals?“
„Nein, niemals“, sagte Bess. „Er ist auch völlig teilnahmslos. Weil man sich mit ihm nicht unterhalten kann, haben die Pfleger keine große Freude mit ihm. Es muss ziemlich eintönig sein, ihn durch die Gegend zu schieben, denke ich immer. Nummer Sieben nimmt seine Umwelt nicht wirklich wahr. Er nimmt auch nicht an öffentlichen Terminen teil, wie den Mahlzeiten. Er ist immer auf seinem Zimmer und wird nur einmal am Tag im Rollstuhl nach draußen gefahren. Ansonsten bekommt man nicht viel von ihm zu sehen.“
Der Pfleger von Nummer Sieben hatte offenbar Probleme, den Rollstuhl die Rampe zur Tür empor zu bekommen und so hatten Eleanor und Bess die beiden eingeholt, noch bevor sie das Haus betreten konnten.
Bess schob sich an den beiden vorbei und grüßte den Pfleger mit einem Lächeln. „Hallo, Jeffrey.“
Jeffrey Cates, der angesprochene Pfleger, nickte etwas außer Atem zurück und verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. Auch Eleanor hatte den Türrahmen erreicht. Doch sie blieb neben der Tür stehen um den Pfleger mit seinem Patienten vorbei zulassen. Sie nickte Mr. Cates zu. Dann fiel ihr Blick auf den Mann, der Nummer Sieben genannt wurde. Eleanor zuckte zusammen und stieß einen kurzen Schreckenslaut aus – der Mann im Rollstuhl war das Gesicht aus dem Spiegel.
Mr. Cates fuhr mit dem Rollstuhl an Eleanor vorbei und ließ sie allein vor der Tür zurück. Für einen Moment wurden ihre Knie weich und sie musste sich an der Brüstung des Treppengeländers festhalten. Das Gesicht des Mannes war völlig unverkennbar. Es war ganz sicher das Gesicht des jungen Mannes im Spiegel des leeren Palastes gewesen. Aber Eleanor hatte noch etwas anderes gesehen: Der Mann im Rollstuhl hatte auch sie bemerkt. Während Mr. Cates den Rollstuhl durch die Tür geschoben hatte, war für einen
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