Hoellenfeuer

fassungslos an.
    „Hab keine Angst“, beeilte Raphael sich zu sagen. „Kein Engel würde so etwas einfach tun. Erinnere dich an die Aufgabe, die Gott Samael und den Seinen gestellt hat. Es geht darum, die Seelen der Menschen zu verführen, damit sie nicht zu Gott gelangen können. Wenn ein Engel einen Menschen einfach tötet, gelangt dessen Seele aber sofort zu Gott. Im schlimmsten Fall sendet Gott die Seele einfach noch einmal zurück zur Erde, damit sie sich dort beweisen kann. Dem gefallenen Engel verschafft das keine Genugtuung. Für ihn ist es ja im Gegenteil das Größte, eine Menschenseele auf ewig an diese Welt zu binden.“
    „Ich verstehe “, antwortete Eleanor. „Aber wenn ihm das nur gelingen kann, indem er einen Menschen zur Sünde verleitet, von welcher Art muss dann diese Sünde sein?“
    „Fragst du mich ernsthaft, was eine Sünde ist?“
    „Ich denke schon“, erwiderte Eleanor nachdenklich. „Ich weiß, dass im Christentum über die Jahrhunderte hinweg darüber gestritten worden ist, was man als Sünde ansehen muss und was nicht. Vor langer Zeit zum Beispiel galt Sex generell als sündhaft. Später definierte die katholische Kirche dann Sex nur noch als sündhaft, wenn er außerhalb der Ehe stattfand. Oder denk an die Kreuzzüge. Eigentlich ist doch das Töten eines Menschen grundsätzlich Sünde. Im Mittelalter aber bog man es so hin, dass das Töten eines Heiden keine Sünde war, sondern angeblich sogar ein Grund, um in den Himmel zu kommen. Christen und Moslems haben das beide damals so gesehen. Wenn man Gut und Schlecht aber so leicht neu definieren kann, wie soll man dann wissen, was Recht und Unrecht ist?“
    „Aber Eleanor! Weißt du das wirklich nicht?“ Raphael wirkte aufrichtig entsetzt. „Du musst doch weiter nichts tun, als deine Seele zu fragen. Sie wird dir sagen, was zu tun ist!“
    „Meine Seele fragen? Wie meinst du das?“
    Raphael senkte seine Stimme. Er sprach plötzlich sehr ruhig und leise. „Gott hat euch mit eurer Seele ein unendlich wertvolles Geschenk gemacht. Ihr könnt euch in allem frei entscheiden – zum Guten oder zum Bösen, doch eure Seele stammt von Gott und so ist auch sie immer gut. Ihr müsst nur auf sie hören. Ihr Menschen habt doch sogar ein eigenes Wort für diese kleine Stimme in euch, die euch richtig von falsch unterscheiden lässt – ihr nennt es ‚Gewissen‘. Du musst nichts weiter tun, als tief in dich hinein zu hören und wenn du in irgendeiner Sache Zweifel in dir verspürst, dann solltest du sie nicht machen. Zweifel bedeuten immer, dass deine Seele mit etwas nicht im Reinen ist.“
    Eleanor dachte nach. „Aber es gi bt Leute, die in allem an sich zweifeln. Und sicher gibt es doch auch Menschen, die eine große Schuld auf sich geladen haben und sich dennoch keiner Schuld bewusst sind; keine Zweifel in sich verspürt haben.“
    Raphael lachte zynisch auf. „Damit wird sich niemand vor Gott herausreden können! Die Menschen, die an allem und jedem zweifeln sind genauso, wie all jene, die keinerlei Zweifel in sich spüren: Sie weigern s ich, auf ihre innere Stimme, ihr Gewissen, zu hören. Der Zweifler will nicht auf sein Herz hören, wenn es ihm sagt, dass eine Sache richtig und gut ist. Und der Mörder, Dieb und Sünder hat gelernt, seine innere Stimme unter der Ignoranz zu begraben. Er hört nicht auf sein Herz, weil er sich dieser Stimme gegenüber taub stellt. Wenn beide ihrem Schöpfer gegenübertreten wird dieser dem Zweifler sagen: 'Du hast nicht auf mich gehört, obwohl du meine Stimme vernommen hast. Aber du wolltest nicht glauben und so wurdest du zum Sünder!' Dem Mörder hingegen wird Gott sagen: 'Du hast nicht auf mich gehört, weil du selbst so laut geschrien hast, dass meine Stimme im Lärm unterging. Dadurch wurdest du zum Sünder!' Glaube mir, Eleanor – du musst auf Gott hören, dir Mühe geben, seine Stimme zu vernehmen. Aber wenn du sie gehört hast, musst du ihren Worten auch folgen! Beides ist wichtig, du darfst sie nicht als unwichtig abtun. Wenn du das befolgst, sündigst du nicht!“
    Eleanor dachte nach. „Heißt das, dass alles, was auf dieser Welt an Sünde geschieht, dadurch zustande kommt, dass die Menschen das Gute in sich bewusst unterdrücken?“
    „Ja. Genauso ist es. Jeder weiß zum Beispiel, dass Töten böse und falsch ist. Absolut jeder weiß es – es gibt keine Ausnahme. Aber einige würden sagen 'Der Zweck heiligt die Mittel'. In ihren Augen kann zum Beispiel ein Mord gerechtfertigt