Hoellenfeuer
hingegen war das genaue Gegenteil. Er war innerlich zerrissen von seinen Gefühlen. Ebenso wie Eleanor verkroch er sich in seinem Schmerz und sperrte die Welt so gut es ging aus. Aber anders als Bess und Eleanor war er alles andere als schwach. Raphael war ein Engel – es klang unglaublich, aber es war dennoch wahr. Er hätte die Welt in Schutt und Asche legen können und niemand wäre in der Lage gewesen, ihn daran zu hindern.
Und zwischen diesen beiden Polen – der normalen und einfachen Bess und dem kranken und doch zugleich unendlich starken Raphael – stand sie: Eleanor. Sehr plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Realität oft merkwürdige Wege geht. Ohne die Liebenswürdigkeit der gewöhnlichen aber einfühlsamen Bess wäre Eleanor wohl an der Welt verzweifelt und hätte sie mittlerweile ein zweites Mal aufgegeben. Ohne Bess hätte Eleanor keinen Anker auf dieser Welt gehabt. Für Raphael aber war Eleanor dieser Anker. Ohne sie wäre er nie aus seinem Toten Palast herausgekommen.
„Du grübelst viel“, erklang eine Stimme aus der Dunkelheit des Zimmers. Eleanor erschrak. Sie richtete sich ruckartig im Bett auf und bemühte sich, mit ihrem Blick die Dunkelheit des Raumes zu durchdringen. Sie tastete nach dem Lichtschalter neben ihrem Bett. Das leise und vertraute Klicken des Schalters war zu hören, doch das Zimmer blieb im Dunkeln. Ein leises Kichern war zu hören.
„Ich bin hier, Eleanor Storm “, war die Stimme wieder zu vernehmen. „Gib dir keine Mühe. Du wirst mich nicht sehen, wenn ich es nicht wünsche.“
Furcht überkam Eleanor. Sie zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch und starrte wortlos durch die Finsternis zur Stimme hinüber. Sie begann zu zittern.
Ihr nächtlicher Besucher indes betrachtete den Menschen vor sich und legte nachdenklich den Kopf schief.
„Du bist tatsächlich merkwürdig“, sprach er schließlich. „Du bist schwach. Aber du wirst dennoch von irgendetwas auf dieser Welt gehalten. Von einem starken Band...“
Die Stimme verklang. Plötzlich vermeinte Eleanor ein Geräusch zu vernehmen, das wie ein Schnüffeln klang.
„Du bist nicht allein...“, flüsterte die Stimme. „Es steht jemand an deiner Seite...“
Dann wurde es still im Zimmer. Eleanor war allein.
„Sag, Raphael. Wie ist es dir in den letzten Tausend Jahren ergangen?“, fragte Samael.
Das Meer der Einsamkeit tief unterhalb des Balkons am höchsten Turm des Toten Palastes wogte heute Nacht aufgewühlt auf und ab. Raphael stand seit Stunden hier und blickte hinaus in die unruhige Nacht. Er hatte gehofft, dass Eleanor ihn auch heute Nacht besuchen würde, aber bislang war sie nicht gekommen. Dennoch war er kaum überrascht gewesen, als er das Rauschen von Flügeln vernommen hatte und Schritte hinter ihm zu hören gewesen waren.
„Samael “, erwiderte er tonlos und ohne sich umzublicken. „Ich war mir sicher, dass du kommen würdest.“
Nach einem kurzen Augenblick der Stille war es Samael, der erneut zu sprechen begann.
„Ich wüsste gern, was du mit dem Menschenmädchen vorhast. Du musst wissen, ich war zunächst sehr überrascht, als ich hierher kam. Ich war auf ihr Seelenlicht aufmerksam geworden, doch dann bemerkte ich, dass sie nicht ganz so leicht zu beeinflussen wäre, wie ich zunächst gedacht hatte. Es gibt etwas in ihr, dass ihr Stärke verleiht. Und während ich noch darüber nachdachte, spürte ich plötzlich deine Anwesenheit...“
Die letzten Worte Samaels waren leise und lauernd geworden.
„Es ist doch wohl kein Zufall, das s du hier bist“, sprach Samael mit schneidender Stimme. Die unverbindliche Freundlichkeit war gänzlich aus seiner Stimme gewichen und hatte einer Eiseskälte Platz gemacht.
„Es ist Zufall “, warf Raphael leise aber bestimmt ein. „Ein Zufall, auf den ich lange gewartet habe. Viele tausend Jahre…“
Samael trat näher an Raphael heran, der noch immer vollkommen regungslos auf den Ozean hinausblickte. Er versuchte Raphael in die Augen zu schauen und seinen Blick einzufangen, doch dieser starrte weiter in die Nacht hinaus.
„Wie meinst du das?“, fragte er verständnislos.
Jetzt endlich wandte Raphael sich entschlossen zu Samael um und sah ihn an.
„Schau uns doch an “, brach es aus ihm heraus. „Seit wie vielen Tausend Jahren sitzen wir hier in Gottes Hölle fest? Viertausend? Fünftausend? Ich habe aufgehört zu zählen! Und siehe, was aus uns geworden ist. Die einen verkriechen sich in ihren Toten Palästen und sind vergiftet an
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