Höllenflut
aussehen, als ob wir's eilig hätten.«
»Wie weit ist es bis zu dem Kanal?«
»Die genaue Entfernung habe ich noch nicht nachgemessen,
aber es müßten knapp hundert Kilometer sein.«
»Und wir wollen vor Sonnenuntergang dort sein«, sagte
Giordino und überschlug kurz, mit welcher
Reisegeschwindigkeit sie in etwa fahren mußten.
»Ich werf' die Leinen los. Du übernimmst das Ruder und
steuerst das Boot ins offene Fahrwasser, während ich
unterdessen die Lebensmittel verstaue.«
Giordino ließ sich das nicht zweimal sagen. Er konnte es
kaum abwarten, den Sieben-Liter-Motor anzuwerfen und seine
unbändige Kraft zu spüren. Er betätigte den Anlasser, worauf er
grummelnd und grollend loslegte. Er ließ ihn eine Weile im
Leerlauf und genoß den satten Sound, Der Motor drehte nicht
rund, sondern eher ruckartig. Fast zu schön, um wahr zu sein,
dachte Giordino. Das ist kein serienmäßiger Motor. Der ist
mächtig aufgemotzt. »Mein Gott« murmelte er leise vor sich
hin, »die Kiste ist ja viel stärker, als wir dachten.«
Da Pitt ganz genau wußte, daß Giordino der Verlockung nicht
lange würde widerstehen können, verstaute er die Lebensmittel
sorgfältig, damit hinterher nicht alles auf den Boden flog. Dann
stieg er über den schlafenden Romberg hinweg, ging hinaus auf
die Veranda und fläzte sich in einen Liegestuhl, stützte aber
vorsichtshalber die Füße an der Bordwand ab und schlang die
Arme um die Reling.
Giordino wartete, bis er freie Sicht hatte und weit und breit
kein Boot in der Nähe war. Er breitete die Navigationskarte vom
Atchafalaya vor sich aus und überprüfte die Wassertiefe. Dann
gab er, wie nicht anders zu erwarten, langsam Gas, bis der
stumpfe Bug des alten Shantyboots gut dreißig Zentimeter aus
dem Wasser ragte. Muß ein unglaublicher Anblick sein, dachte
er, wenn dieser plumpe Kahn mit fast sechzig Sachen
flußaufwärts brettert. Pitts Schaukelstuhl war bis zur Wand
zurückgerutscht, als sich der Bug immer höher aus dem Wasser
hob, und der Fahrtwind drückte ihn mit solcher Wucht nieder,
daß er sich kaum bewegen konnte.
Nachdem er rund drei Kilometer mit Volldampf flußaufwärts
gepflügt war, so daß das aufgewühlte Kielwasser gut einen
Meter hoch ins Marschland schwappte und die dichten grünen
Wasserhyazinthenteppiche entlang der sumpfigen Ufer tüchtig
durchschaukelte, bemerkte Giordino zwei kleine Fischerboote
mit Kurs auf Morgan City, die ihnen entgegenkamen. Er nahm
sofort das Gas weg, bis das Shantyboot wieder gemächlich
dahintuckerte. Die Wasserhyazinthe, benannt nach ihren
hübschen, zartvioletten Blüten, ist die Geißel der
nordamerikanischen Binnengewässer. Die auf luftgefüllten
Blattstielen frei schwimmenden Wasserpflanzen vermehren sich
so schnell, daß sie innerhalb kurzer Zeit ganze Flüsse und
Bayous überwuchern und ersticken können. Und ihre Schönheil
trügt: Sobald man sie aus dem Wasser zieht, stinken sie wie ein
Fuder Kunstdünger.
Pitt, der sich vorkam wie nach einer Achterbahnfahrt, ging
hinein, holte das Meßtischblatt, musterte die zahlreichen Knie
und Biegungen des Flusses und machte sich mit dem Labyrinth
aus Bayous und Altwasserarmen vertraut, die sich zwischen
Wheeler's Landing und dem von der Qin Shang Maritime
Limited ausgebaggerten Kanal links und rechts durch das Sumpf
land des Atchafalaya wanden. Er notierte sich markante Punkte
an den Flußbiegungen und verglich sie mit den Kartenangaben.
Es war ein erhebendes Gefühl, gemütlich im Schatten der
Veranda zu sitzen und ruhig über dieses Gewässer zu gleiten,
auf dem Zeit bedeutungslos schien- ein Erlebnis, wie man es nur
auf einem Flußboot genießen konnte. Die Vegetation entlang der
Ufer änderte sich fortwährend- Auf dichte Wälder aus Weiden,
Pappeln und Zypressen, zwischen denen Beerensträucher und
wilde Weinranken wucherten, folgten Sumpfgebiete wie aus
Urzeiten. Endlose Schilffelder wiegten sich sanft im leichten
Wind, und hier und da ragte eine Zypresse aus dem gräsernen
Meer, wie eine Fregatte auf hoher See. Er sah Reiher, die auf
ihren Stelzenbeinen durch das seichte Wasser staksten, den Hals
S-förmig gebogen.
Jeder Jäger oder Angler, der per Boot oder Kanu durch die
Sümpfe von Südlouisiana paddelt, kann ein Lied davon singen,
wie schwer es ist, eine trockene Stelle zu finden, an der man
über Nacht sein Zelt aufschlagen kann. Ganze Wälder stehen
hier in schlammigem Brackwasser, nicht auf festem Boden, und
auf fast allen offenen
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