Hoellenprinz
Schutzbedürfnis ausstrahlte? Oder war es einfach diese Mischung aus allem, die irgendwie nicht hierher passte und daher so auffällig war? Sie war bald Vergangenheit, ihr Auslandsjahr konnte nicht mehr lange dauern, dachte Lukas. Unglaublich, wie die Puerto Ricanerin diese Stadt erobert hatte, mit ihrer Schönheit, ihrer Exotik. Allen Jungs hatte sie den Kopf verdreht. Sogar seinen, weil er sich ununterbrochen Daniels Schwärmerei hatte anhören müssen. Alles an ihr wurde romantisiert, sogar ihr Katholizismus und ihre Armut.
Lukas schaute aus dem Fenster und schaltete sein Kopfkino an:
Eine überdimensional groÃe goldene Nuss steht vor dem riesigen Gesicht Gottes.
»Zeig den Männern ihre Unvollkommenheit!«, befiehlt Gott und streicht dabei mit den Fingerspitzen über sein kleines schwarzes Lippenbärtchen. »Sie werden dich essen wollen. ALLE! Aber sie werden dich nicht bekommen. Wer daran zerbricht, ist zu dumm für dieses Leben und stirbt. Wer daraus lernt, darf sich fortpflanzen.«
Die Nuss wandert los und wird überall von Männern umschwärmt wie eine Eizelle von hektischen Spermien. Mit allen Werkzeugen dieser Erde versuchen sie, sie zu knacken, doch die Nuss bleibt verschlossen und Leichen pflastern ihren Weg.
Ein Hustenkrampf von Timo holte Lukas zurück in die Wirklichkeit des stickigen Wartezimmers. Sein Bein zuckte wieder und er hielt es fest, mit beiden Händen. Luna hatte ein Motiv. Er studierte ihr Gesicht. Wie sieht die verräterische Geste eines Mörders aus?, fragte er sich. Da gab es doch sicher Studien und Regeln. Luna schien zu schwitzen. Sie fasste ihre dicke, lockige Haarpracht mit beiden Händen im Nacken zu einem Zopf zusammen, hielt ihn nach oben und wedelte sich Luft zu. Das Handy hatte sie auf ihren Oberschenkel gelegt und ihren Blick nicht vom Display abgewendet. Wenn sie es getan hat, wäre er der Nächste. Lukas strich mit seiner Hand über sein Bein, als würde er beruhigend den Hals eines störrigen Pferdes streicheln.
Sophie war nicht da. Die könnte es genauso gut gewesen sein oder beide zusammen. Logisch. Sie hätten sogar dasselbe Motiv. Wie hatten Daniel und er nur annehmen können, dass die Mädchen es nicht irgendwann einmal rausbekämen. Es hatte alles so gut angefangen, so verdammt gut.
Zu gut.
Luft. Er atmete laut ein und aus und drückte mit der Hand sein Bein auf den Boden. Ela kam. Ein groÃes, dünnes Mädchen mit einem wirren roten Haarschopf, nicht hässlich, aber auch nicht wirklich hübsch, vielleicht ein bisschen zu jungenhaft. Sie war seine groÃe Hoffnung, den ganzen Tag schon. Sie hatte sich mit ihrer gestrigen Nummer nicht nur lächerlich, sondern auch ziemlich verdächtig gemacht. Ihr Zustand gestern war offensichtlich eine Ausnahme. Ela war keine Komasäuferin, das passte gar nicht zu ihr. Sie hatte einfach ein Problem, und das hieà Daniel. Ela schaute in die Runde und versuchte ein Lächeln. Es gelang ihr nicht. Obwohl die meisten sie anschauten, lächelte niemand zurück, auÃer Lukas, aber als ihre Augen seinen begegneten, war ihr Lächeln schon versiegt. Mit Sicherheit glaubten alle, dass sie die Mörderin war. Menschen, die das Trinken nicht gewohnt waren, konnten sich unter Alkoholeinfluss in Bestien verwandeln, das war nichts Neues. Ela wäre Lukasâ Traumtäterin. Mord aus Eifersucht.
Dann wäre er drauÃen.
Endlich ertönte sein Name aus dem Lautsprecher: »Lukas von Erpenstein, Zimmer 203, bitte.«
7
A ls Ela den Raum betrat, den der Pförtner ihr genannt hatte, glaubte sie, gegen eine Wand zu laufen, so zäh und verbraucht war darin die Luft. Sechs der Abiturienten waren da: Jonas, der rothaarige Trompeter, die Schwarzhaarige, der kleine Dicke, Timo hieà er, glaubte Ela, Luna und Lukas. Alle glotzten sie an und instinktiv versuchte sie ein Lächeln, was aber gleich wieder in sich zusammenfiel. Es hatte keinen Sinn, sie merkte bereits im Ansatz, wie falsch es aussah. Neben Luna war noch ein Platz frei. Das war gut. Sie kannte sie wenigstens, vom Volleyball.
»Hallo Luna«, sagte Ela.
»Hi«, sagte Luna, blickte aber sofort wieder auf ihr Handy.
Caro war nicht da. Vielleicht war sie schon dran oder kam erst später. Mittlerweile stierten alle entweder auf ein Display oder auf den Boden. Die meisten hatten Kopfhörer auf. Keiner sprach, jeder war für sich allein.
Tod macht einsam, dachte
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