Höllental: Psychothriller
schnell etwas einfallen lassen, sonst war sie verloren.
Teil 7
Zwei Wahrheiten
Vergangenheit
I n der kleinen Kapelle ist es kühl. Rechts und links des kurzen Mittelgangs gibt es jeweils zwei Bänke. Vom Altar schaut die Jungfrau Maria gnädig auf uns hinab.
Laura nimmt ihren Rucksack ab und stellt ihn auf eine der Bänke. Dann geht sie nach vorn und lässt sich auf die untere der beiden Stufen sinken, die zum Altar hinaufführen. Auf den Knien hockend faltet sie die Hände, krümmt den Rücken, senkt den Kopf und betet. Sie tut es in sich gekehrt, ich kann ihre Worte nicht hören. Aber ich bilde mir ein, wie sie sich bei Gott dafür bedankt, dass er ihr mich geschickt hat. Im Moment höchster Not kreuzte ich ihren Weg und verhinderte so Schlimmeres. Wer kann schon sagen, was passiert wäre, wenn die Jungs sie gezwungen hätten, weiter aufzusteigen. Wahrscheinlich hätte sie aus Erschöpfung einen Fehler gemacht und wäre abgestürzt. Ich habe sie also vor dem Tod gerettet, und sie hat jeden Grund, sich bei Gott zu bedanken.
Da ich ihre Religion nicht teile, bleibe ich an der Tür stehen. Ich verhalte mich still und beobachte Laura. Die nasse Regenkleidung schmiegt sich an ihren schmalen Körper. Wasser perlt von ihrem Haar über die braune Haut ihres Nackens. Noch nie zuvor fühlte ich mich mehr zu einer Frau hingezogen. Ich überlege, wie alt sie wohl sein mag. Vielleicht zwanzig, sicher nicht älter als zweiundzwanzig. Ich selbst bin achtundzwanzig. Wir passen gut zusammen, finde ich. Sie braucht einen Beschützer, einen richtigen Mann, nicht solche Jungs wie die, von denen ich sie befreit habe. Wie konnte sie sich nur mit denen einlassen? Ich habe sofort gespürt, dass man ihnen nicht trauen kann. Zwischen ihnen herrschte eine ganz eigenartige Stimmung, so als gönne der eine dem anderen nichts. Besonders der, der sich als Wort-und Anführer aufgespielt hat, war ein verschlagener Kerl. Ich stelle mir die Frage, mit welchem dieser Jungs Laura zusammen war.
Allein der Gedanke daran lässt mich wütend werden.
Ich werde ihr helfen müssen, von diesen Jungs loszukommen. Es wird eine Zeit dauern, bis sie begreift, dass es notwendig ist. Aber sie wird es begreifen, da bin ich mir sicher.
Nach ein paar stillen Minuten, die uns beiden gutgetan haben, bewegt Laura sich. Sie löst ihre Hände voneinander, legt den Kopf in den Nacken und schaut zum Heiligenbild hinauf.
Es verschlägt mir den Atem.
Großer Gott, diese Anmut.
Schließlich steht sie auf, dreht sich herum und kommt auf mich zu. Doch sie wankt, muss sich an den Bänken festhalten. Plötzlich ist ihr Gesicht kalkweiß. Mit zwei schnellen Schritten bin ich bei ihr und halte sie.
»Komm, setz dich einen Moment. Das war alles zu viel.«
Mit sanftem Druck dirigiere ich sie auf eine der Bänke und setzte mich neben sie. Bereitwillig lässt sie es mit sich geschehen. Sie atmet schnell, ihre Hände und ihre Lippen zittern. Ich lege meinen linken Arm um ihre Schulter und ziehe sie an mich. Für den Bruchteil einer Sekunde befürchte ich, dass sie mich zurückweist. Doch das tut sie nicht. Im Gegenteil. Voller Vertrauen lässt sie sich an mich sinken. Ihre Wange liegt an meiner Schulter. Ich kann ihr nasses Haar riechen und ihren Herzschlag spüren.
Für eine Weile verharren wir so.
Wenn es nach mir ginge, könnte die Zeit stehen bleiben. Ich erlebe einen Moment, in dem man sich Ewigkeit wünscht. Während ich sie halte und spüre, schaue ich zu der Marienstatue empor und danke Gott. Ich habe lange nicht mehr auf ihn vertraut, habe ihm abgeschworen. Doch in dieser schwierigen Zeit, in der ich mich selbst verloren habe, ist er plötzlich für mich da. Er stellt mir eine Aufgabe. Ich soll auf dieses Mädchen aufpassen, soll es beschützen.
Er überlässt sie mir.
Sie ist mein.
Verflucht noch mal. Jetzt spüre ich doch tatsächlich eine Träne über meine Wange rinnen.
Meine Hand schiebt sich wie von selbst unter ihr Kinn. Hebt es an.
Wir sehen uns in die Augen.
Mein Mädchen und ich.
I nnerhalb von Sekunden veränderte sich alles. Kein Wind mehr, kein Schnee, keine Atemnot. Keine stechenden Eiskristalle im Gesicht. Dafür gnädige Ruhe nach mehr als zwei Stunden Chaos.
Mara sackte auf die Knie, beugte sich vor und versuchte zu Atem zu kommen. Die letzten Meter auf den Stufen waren die Hölle gewesen. Sie hatte schon nicht mehr daran geglaubt, es zu schaffen. Der Wind hatte noch einmal zugenommen und den Schnee haufenweise auf sie
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