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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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    Martin Cruz Smith
     
    Polar Star
     
     
    WASSER
     
    Wie eine schnaubende Bestie wälzte sich das Netz über die Rampe und ins Licht der Wolframlampen auf dem Trawldeck. Wie ein schimmerndes Fell schmiegten sich rot-, blau- und orangegestreifte Flechten über die Maschen: »Häcksel-Haar« aus Plastikfasern, die das Netz auf dem felsigen Meeresgrund gleitfähiger machen sollten. Wie fauliger Atem entströmte diesem Haarfilz die Kälte der See und kränzte ihn mit dem Widerschein seiner eigenen Farben, weithin leuchtend in der trübverhangenen Nacht.
    Wasser zischte aus dem Plastikhaar auf die Holzplanken, die den Männern an Deck Halt boten. Kleinere Fische wie Hering und Stint zappelten ins Freie, Seesterne plumpsten wie Steine hinterher. Ausgerissene Krabben landeten, obschon tot, auf den Zehenspitzen. Oben zogen Möwen und Sturmtaucher ihre Kreise um die gleißenden Lichtkegel der Scheinwerfer. Dann drehte sich der Wind, und die Vögel stoben in weißem Flügelgewirr auseinander.
    Normalerweise wurde das Netz umgestülpt und zuerst kopfüber in die vorderen, dann vom Steert her in die hinteren Luken entleert. Öffnen ließ es sich von beiden Seiten, und zwar indem man den »Reißverschluß«, eine durch die Maschen geflochtene Nylonschnur, aufnestelte. Die Männer standen schon mit ihren Schaufeln bereit, doch der Trawlmaster winkte sie zurück. Er trat in die Wasserlache, die aus dem Plastikhaar geregnet war, nahm, um sich freie Sicht zu schaffen, eigens seinen Helm ab und spähte angestrengt hinauf ins Netz. Aus den bunten Fasern tropfte es wie frische Farbe. Der Mann streckte die Hand aus und teilte den Haarvorhang, dann hielt er in der Dunkelheit Ausschau nach dem anderen, schwächeren Licht, das draußen über den Wogen tanzen mußte, doch das Fangboot, welches das Netz geliefert hatte, war bereits im Nebel verschwunden. Der Trawlmaster zog ein zweischneidiges Messer aus dem Gürtel, langte durch das triefende Plastikhaar und kappte mit einem Kreuzschnitt den Bauch des Netzes. Erst einzeln, dann paarweise purzelten die Fische heraus. Ein letzter, heftiger Ruck mit dem Messer, und der Mann sprang beiseite.
    Eine wahre Flut von Silberpollacks quoll ans Licht, ein ganzer Schwarm, der komplett ins Netz gegangen und heraufgehievt worden war, wie ein Berg funkelnder Münzen. Dicke Katzenwelse folgten, offenbar übel zugerichtet; Flundern schwappten darüber, blutrot auf der Seite, wo das Auge saß, weißlich-blaß auf der blinden; dann Seeskorpione mit drachenähnlichen Köpfen; Kabeljaue, manche von der Schwimmblase aufgebläht wie Ballons, andere zu wabbeligem Brei und rosigem Schleim zerplatzt; Korallenkrabben, behaart wie Taranteln. Die Prämie der nächtlichen See.
    Und ein Mädchen. Behende wie eine Schwimmerin glitt sie mit dem Fischstrom aus dem Netz. Gemächlich, mit verdrehten Armen, rollte sie auf Deck gegen einen Berg Seezungen, und ein nackter Fuß verfing sich in den Krabben. Nein, kein Mädchen, eine junge Frau. Sie hatte kurzgeschnittenes Haar, Bluse und Jeans waren durchweicht und hingen an ihr wie Säcke, schwer von Wasser und Sand, nicht gerüstet für die Rückkehr in die Welt hier oben. Der Trawlmaster strich eine Haarsträhne zurück, die ihr über die Augen gefallen war, und enthüllte das unverhohlene Staunen in ihnen, als wären die im Licht der Schiffslampen badenden Nebelschwaden goldgeränderte Wolken, als wäre sie in einem Boot an die Oberfläche gekommen, das direkten Kurs auf den Himmel hielt.
    Ursprünglich, als die Polar Star in Danzig vom Stapel gelaufen war, erstrahlten ihre vier Decksaufbauten in blendendem Weiß, Kräne und Ladebäume leuchteten bonbongelb. Die Decks waren blitzsauber und aufgeräumt; silberne Ketten schlangen sich um die Winschen; die Verkleidung an Ruder- und Kartenhaus wirkte schnittig, ja elegant. Kurz gesagt, die Polar Star hatte ausgesehen wie ein Schiff.
    Zwanzig Jahre Fahrt im Salzwasser hatten ihr dann aber einen neuen Anstrich aus Rost verpaßt. Auf den oberen Decks türmten sich Holzplanken, Fässer voll Schmieröl und leere Fischtrankanister, die Reste undichter Rettungsgürtel und zerrissener Netze. Aus dem schwarzen Schornstein mit dem roten Sowjetstern quoll der rußige Rauch eines schlecht gewarteten Dieselmotors. Mittlerweile glich die Polar Star aus einigem Abstand, wenn der vom Entladen ihrer Begleittrawler bei stürmischer See lädierte Rumpf sichtbar wurde, weniger einem Fabrikschiff als vielmehr einer Kreuzung zwischen Fabrik und

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