Hoffnung am Horizont
nicht einmal. Aber mit Annie und Colin unterhält
er sich die ganze Zeit freundlich und lacht sogar ein paar Mal. Nur wenn er in
meine Richtung sieht, verdüstert sich sein Gesicht. Ich mustere ihn verstohlen,
während des Essens. Er hat braune, leicht wellige Haare bis zum Kinn, die er
sich bestimmt schon zum Pferdeschwanz binden könnte. Seine schokobraunen Augen
waren mir ja schon am Flughafen aufgefallen. Er trägt einen gepflegten Drei-Tage-Bart,
der einen sinnlichen Mund freilässt und hat ein energisches Kinn. Gabe sieht
wahnsinnig gut aus und mir wird der Mund trocken, bis seine tiefe Stimme mich
aus meinen Gedanken reißt.
„Gefällt dir, was du
siehst, Mädchen?“, fragt er leise.
Mir stockt der Atem und
die Röte schießt mir ins Gesicht. Mist, erwischt! Ich hab ihn wohl etwas zu
deutlich angestarrt. Momentmal, Mädchen? Nennt er jede Frau so oder hat er mich
wiedererkannt? Als hätte er meine Gedanken gelesen sagt er: „Ich vergesse nie
ein Gesicht.“
Ups, schon wieder
erwischt. Mittlerweile bin ich knallrot und beiße mir auf die Lippe, so
peinlich ist mir das Ganze. Schnell greife ich nach meinem Weinglas und nehme
hastig einen viel zu großen Schluck von dem guten Rotwein, bevor ich
angestrengt auf meinen Teller starre. Ich kann seinem durchdringenden Blick
nicht standhalten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Annie und Colin uns schon
zum zweiten Mal an diesem Abend fragende Blicke zuwerfen, aber keiner der
beiden sagt etwas dazu. Vielleicht haben sie Gabriels Worte nicht verstanden, so
leise, wie er gesprochen hat. Ich hoffe es! Der Appetit ist mir vergangen,
obwohl ich das köstliche Rinderfilet auf meinem Teller kaum angerührt habe. Ich
schiebe es noch ein paar Minuten hin und her, ohne wirklich einen Bissen zu essen,
dann werde ich zum Glück von Annie gerettet, die mich bittet, ihr beim
Nachtisch zu helfen. Schnell greife ich mir ein paar Teller und verschwinde in
der Küche. Wir räumen das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und Annie
holt die Schälchen mit Zitronenmousse aus dem Kühlschrank.
„Wann soll eigentlich eure
Hochzeit stattfinden?“, frage ich. „Du hast in deiner letzten Mail gar nichts
geschrieben.“
„Nein, das war Absicht.
Ich wollte dich persönlich fragen, deshalb habe ich dich in die Küche gebeten.
Also, wir wollen morgen in vier Wochen schon heiraten und ich wollte dich
fragen… Also…“
Sie verstummt und blickt
wie suchend in der Küche umher, bis ich sehe, dass sie Tränen in den Augen hat.
Sanft fasse ich sie an den Oberarmen.
„Annie, was wolltest du
mich fragen?“
Sie atmet noch einmal tief
durch und sammelt sich kurz.
„Okay. Jules, du weißt, du
bist meine allerbeste Freundin und ich wollte dich fragen, ob du meine
Trauzeugin werden möchtest.“
Jetzt fangen ihre Tränen
an zu fließen und ich bin gerührt.
„Natürlich will ich!“ rufe
ich, falle ihr um den Hals und jetzt kann auch ich meine Tränen nicht mehr
zurückhalten.
Annie ist meine beste
Freundin seit wir uns im ersten Semester auf der Uni ein Zimmer geteilt haben.
Wir sind gemeinsam durch dick und dünn gegangen, haben zusammen gelacht, unsere
Tränen getrocknet, über unsere Kommilitonen hergezogen und uns zusammen auf
Partys betrunken. Wir wissen über den anderen genauso viel, wie über uns selbst
und als Annie nach ihrer Vergewaltigung hierher nach Boothbay Harbor ans Meer
gezogen ist, bin ich mitgegangen, um sie zu unterstützen.
Für mich war es früher
egal, wo ich meine Wohnung hatte, da ich in den letzten Jahren ja sowieso
beruflich viel unterwegs war, aber diese kleine Stadt am Meer hat mich vom
ersten Augenblick in ihren Bann gezogen. Ich möchte nie wieder woanders wohnen.
Auf einmal kommt mir ein
Gedanke.
„Sag mal, dein Zukünftiger
fragt nicht zufällig gerade Gabriel, oder?“
„Doch, aber wie ich die
Männer kenne, geht es dabei nicht halb so rührselig zu wie bei uns.“, lacht sie
und wischt sich das letzte Tränchen ab.
Na, das kann ja heiter
werden. Dann sehe ich diesen Typen wohl noch häufiger.
Beim Nachtisch reden wir
noch eine Weile über die Hochzeitsplanung. Gabe spricht mich nicht wieder an und
auch ich versuche ihn nicht weiter zu beachten. Nach dem Essen verabschiede ich
mich allmählich. Der Jetlag schlägt wieder zu und ich gähne, als ich in meine
Jacke schlüpfe und mich verabschiede. Als ich in den Fahrstuhl trete, steht
Gabe auf einmal neben mir. Ich hatte nicht mitbekommen, dass auch er gehen
wollte und sehe ihn
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