Hohe Wasser
Ärmchen und Beinchen in der Luft rudern. Die Frau entfernte sich vom Korb, um Algen zu sammeln. Es dauerte nicht lange. Wieder tönte das Meer. Die Wasserfrau kam an den Strand geschwommen und steuerte zuerst auf die Fischersfrau zu, als wollte sie ihr etwas sagen. Dann sah sie den Korb und wie es strampelte in ihm. Sie schwamm zum Felsen und stemmte sich hoch. In diesem Augenblick stürzten die Männer hinter den Klippen hervor und stachen zu, mit Harpunen, Spießen und Haken, mit denen sie sonst Thunfische ins Boot zogen. Andere schlugen mit Schaufeln und Stöcken auf die Wasserfrau ein. Nach einer Schrecksekunde stieß sie einen markerschütternden Schrei aus, der das Meer grollen und die Männer erstarren ließ. Dann tauchte sie weg ins Meer, das plötzlich unruhig geworden war. Im aufkeimenden Sturm hörte die Fischersfrau ein Kind weinen, ihr Kind. Die Nixe hatte es draußen, an den äußersten Klippen von Les Saisies, abgesetzt. Diese Felsen waren über das immer wütender werdende Meer nicht mehr zu erreichen. So kletterte sie mit bloßen Füßen auf das Riff hinaus, sie zerschnitt sich die Fußsohlen und stieß sich die Zehen blutig, aber es gelang ihr, das Mädchen vor den tobenden Wellen zu retten. Das Kind trug die Muschelkette um den Hals und dazu noch einige Granat- und Perlenketten. Schweigend kehrten die Fischer heim. Die Wunden an den Füßen der Fischersfrau verheilten nicht. Die Frau wurde schweigsam. Manchmal schleppte sie sich an den Strand, sah hinaus aufs Meer und wartete. Nur das Morgengrauen zeigte sich. Noch immer speien die Wellen hellrotes Nixenblut an den Strand.
Die Motorsäge traf auf Stein. Es war umgeschnitten, was umgeschnitten werden musste. Feuerbusch. Feuerdorn, Weißdorn, Rotdorn, Hahnendorn. Vogelbeere. Mehlbeere. Eisbeere. Speierling. Keine Zierhölzer mehr. Keine Wirtspflanzen für den Feuerbrand. Sperrzonen für Bienen und Vögel. Neubeginn mit resistenten Pflanzen in einem stummen, skalpierten Land.
Raoul legte ihr sonnenwarme Steine auf den Bauch. Sein Geruch hüllte sie ein. Nach Salz roch er, nach Algen und einer Spur Geißblatt. Noch nie hatte ihr jemand die Zehen geküsst. Sie lag gut im Sand. So würde sie liegen bleiben, bis sein Atem sie traf, sein Mund und die Finger. Sie würde sich formen lassen und neu entdecken. Sie würde mit Raoul vordringen in unerforschte Tiefen, bis zum Grund des Meeres und weiter, die Erdkruste durchstoßen und der kochenden Glut nahe sein.
Feuersteine explodierten, die Spritzer trafen sie unvermittelt. Zu schnell war sie zur Oberfläche aufgetaucht. Jetzt raste das Herz. Übermütiges Gelächter. Der Bub hatte sich angeschlichen und ihr eine Badekappenladung Meerwasser ins Gesicht geschüttet. Sie schlug nach dem Sohn.
– Warum tut ihr das, schrie sie die Kinder an, warum erschreckt ihr mich, warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?
– Du warst schon wieder ganz weit weg mit deinem Kopf, sagte der Sohn, noch immer lachend und zufrieden mit der erzielten Reaktion.
– Darf ich das nicht?
– Nein, du musst hier bleiben, bei uns.
Ein sirrender Ton lag in der Luft. Jemand hatte das Meer in klingende Schwingungen versetzt. Sie schrie. Sie schrie. Sie schrie.
Sie schrie sich weg von den Kindern, weg von den nassen Kleidern und brennenden Füßen. Sie schrie sich heraus aus den Ehejahren und fort von der Motorsäge und dem stummen, skalpierten Land. Sie schrie sich hinein in die erstarrten Wellen des blauen Gesteins und hinaus aufs Meer zu den silbernen Thunfischschwärmen. Sie schrie, bis sie ruhig wurde beim Schreien und leicht und das Schreien sie trug. Sie hatte ihre Sprache wieder gefunden. Sie schrie und schrie und hörte auch nicht auf, als das Meer Blütenwolken über den Himmel trieb und aus der Gischt eine Meerfrau neugierig zu ihr herübersah.
Chili out
Mein Mondbein stirbt. Vor drei Tagen habe ich nicht gewusst, dass ich ein Mondbein habe. Man hat es mir auf den Bildern gezeigt und dann mitgeteilt, dass es sterben wird. Absterben. Das Mondbein ist der dunkle, sichelförmige Fleck auf dem Röntgenbild oberhalb des Handgelenks. Der Fleck sollte hell sein. Er sitzt auch nicht mehr richtig. Die letzten Monate wurde ich auf Sehnenscheidenentzündung behandelt. Jetzt heißt es Mondbeintod. Sie fragen mich, warum ich nicht früher gekommen bin.
In mein eigenes Leben bin ich noch nie rechtzeitig gekommen. Ich bin immer zu spät dran. Als ich auf die Welt kam, war der Vater schon weg. So ging es weiter. Eine ehemalige
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