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Hohe Wasser

Hohe Wasser

Titel: Hohe Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugenie Kain
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die mit dem Kugelschreiber spielten, waren schlank und lang. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Mann auf diese Weise angesehen zu haben. Sie wusste auch nicht mehr, ob sie beim Anblick eines Mannes einmal ein derartig heftiges Verlangen gespürt hatte. Wenn, dann musste es lange vor den Kindern in der anderen Zeit gewesen sein. Der Mann spürte, dass sie ihn betrachtete, und lächelte ihr zu. Als er das Telefongespräch beendet hatte, stand er auf und kam zu ihr.
    Bonjour Madame. Bei diesem Wetter nicht im Wasser? Er stand so nah bei ihr, dass sie ihn riechen konnte und seinen Atem spüren. Der Geruch war nicht unangenehm. Sie machen mit mir einen Rundgang durch das Reservat? Sind das Ihre Kinder? Er beobachtete sie, wie sie in Glaskästen gefüllte Sandschichten kommentierten, und lächelte. Morgen, sagte er, morgen wandern wir, morgen Nachmittag ist die Ebbe günstig. Aber meine Führungen sind für Erwachsene, ich bin Geologe. Wir sehen Steine und lesen daraus die Geschichte der Erde. Kindern wird dabei meist langweilig. Wir werden sehen. Ich freue mich, wenn Sie morgen mitkommen.
    Er sah sie an und lächelte. Dann nahm er ihre Hand. Seine Hand war so feucht wie die ihre. Es ist zu heiß, hatte der Mann gesagt, das ist nicht gut für unsere palmure. Sie hatte ihm beigepflichtet. Der Mann hieß Raoul. Sie hatten einen Treffpunkt für die Führung vereinbart. Sie hatte ihm einige Ansichtskarten abgekauft. Seltene Möwenarten, Algen im Sand, Heidekraut und Stechginster, Steine. Karten, die sie nicht abschicken würde. Sie blätterte im Wörterbuch. Palmure hieß Schwimmhaut. Sie wusste nicht, ob sie den Mann richtig verstanden hatte.
     
    Vier Kilometer waren es bis zum Naturschutzgebiet an der Küste. Die Kinder wollten die Führung nicht abwarten, sondern sofort losziehen. Einwände ließen sie nicht gelten. Die Begeisterung der Kinder rührte sie. Ein Marsch in erbarmungsloser Hitze stand ihnen bevor. Raoul hatte ihnen eine Karte gegeben und einige Stellen eingezeichnet. Pointe des Chats, Trou de l’Enfer, Höllenloch, Sables Rouges, roter Sand. Sie wanderten über dürre Stoppelfelder. Schlehen mit reifblauen Früchten gaben den weiten braunen Flächen Struktur, und Brombeerhecken mit sonnenwarmen Beeren. Jemand schien Stanniolpapier auf der trockenen Erde verstreut zu haben. Es waren Steine, die in der Sonne glimmerten und glänzten.
    – Ist das Silber?
    – Nein, das ist Katzengold. Silikat. Die Kinder füllten sich die Taschen.
    – Lasst doch die Steine, müsst ihr immer alles einstecken und mitnehmen?
    Die Kinder hörten nicht auf sie.
    – Es sieht doch niemand, sagte der Bub.
    Der Bub hob einen flachen Stein auf, nahm Maß und zielte auf ihr Schienbein.
    – Siehst du, es sieht niemand.
    – Gehst du morgen mit dem Mann zu den Steinen?, fragte das Mädchen.
    – Wir alle gehen mit Raoul zu den Steinen. Und zu den Vögeln. Es gibt hier seltene Möwenarten, Kormorane und große Raben.
    – Ich will keine Führung, sagte das Mädchen. Warum gehen wir nicht an den Strand?
    – Ich will auch keine Führung, maulte der Bub, Raoul wird es uns nicht erlauben, Steine mitzunehmen.
    – Dann geht morgen Nachmittag mit den Kindern von Monsieur Soukop schwimmen, und ich treffe mich allein mit Raoul.
    – Das erlaube ich nicht, sagte das Mädchen.
    Trotz Karte hatte sie den falschen Weg eingeschlagen. Statt nach Keranpoulo waren sie Richtung Kerrobet unterwegs. Zusätzliche leere Kilometer. Sie ließ sich nichts anmerken. Niemand hatte daran gedacht, Wasser mit auf den Weg zu nehmen. Ihre Füße brannten, die große Zehe tobte und der Knöchel schmerzte. Die Begeisterung der Kinder für seltene Mineralien war verflogen. Sie hatten Durst. Die Brombeeren waren sauer, die Schlehen herb. Sie standen in einer ausgedörrten Landschaft, am Horizont ein kleiner weißer Weiler, und dahinter lag ihr Ziel, das Meer. Die Kinder wussten nicht, dass sie dann vom Naturschutzgebiet noch einige Kilometer Küstenweg trennten. Aber sie wussten, dass sie eine Mutter hatten, die für Abwechslung sorgen würde. Das Mädchen tanzte vor ihren Füßen herum, hinderte sie am Weitergehen und schnitt Grimassen. Der Bub schlich sich von hinten an, stach ihr seine Zeigefinger zwischen die Rippen und wieherte vor Vergnügen, weil sie zusammenzuckte. Dann nahm er Anlauf und versuchte, auf ihren Rücken zu springen. Als er es geschafft hatte, hängte er sich an ihren Hals und schrie: Hü, ich bin dein Reiter, hopp, hopp, hopp.
    – Ich will

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