Holst, Evelyn
Marius gerade seinen Küchenschrank durchwühlte: „So ein Mist“, fluchte er. „Ich wollte uns eine schöne Zabaglione machen und jetzt hab’ ich keinen Portwein mehr.“
Er sah so wütend aus, dass Leonie unwillkürlich lachen musste: „Mensch Marius, das ist doch kein Problem. Ich fahr schnell zur Tankstelle. In zehn Minuten bin ich wieder da.“
Marion beobachtete ihren Mann, der geschickt die Spaghetti mit scharfer Thaipesto um seine Gabel wickelte und dachte, er sieht wirklich noch sehr gut aus, mein Mann, jede Frau in diesem Restaurant würde mich um ihn beneiden. Er ist groß und schlank, seine Haare sind noch voll und silbrigbraun und das schönste an ihm sind seine Hände. Pianistenhände. Chirurgenhände. Liebhaberhände. Was hatte sie es früher genossen, von ihm berührt zu werden. Ja, sie hatte ihn einmal sehr geliebt, und es gab durchaus Momente, wo sie sich vorstellen konnte, es wieder zu können. Wenn Ludwig nicht wäre ...
„Woran denkst du?“, fragte Hendrik in diesem Augenblick, weil er ihren Blick gespürt hatte und während er hoch schaute, rutschte die sorgfältig aufgerollte Pasta wieder auf den Teller zurück. Er lachte, pickte den Haufen wieder auf und begann von Neuem. „Ich könnte die Spaghetti natürlich auch klein schneiden“, sagte er. „Aber das ist nicht die italienische Art.“
Sie begegnete seinem lächelnden Blick und spürte den Schmerz, den sie ihm in wenigen Minuten zufügen würde, wie einen Messerstich mitten durchs Herz. Er war ein guter Mann, das wusste sie, obwohl er ihr das schlimmste, vorstellbare Unglück zugefügt hatte, und dass sie ihn verlassen musste, war nicht seine Schuld. Es war eine Verstrickung tragischer Umstände gewesen, ein Schicksalsschlag. Ein böser, grausamer Gott hatte ihnen ihr Kind genommen, obwohl der Pastor sie mit den wohlmeinenden Worten: „Wen der Herr besonders liebt, den ruft er früh zu sich“, zu trösten versucht hatte. Aber es gab keinen Trost für sie, und es gab keinen Morgen mehr, an dem sie nicht aufwachte und wie früher auf die kleinen, trippelnden Kinderschritte lauschte, auf das hohe, piepsige Kichern wartete, mit dem die kleine Isabell ihre Bettdecke lüpfte und sich neben sie schmiegte. „Mama, schläfst du noch?“, hatte sie ihr jedes Mal ins Ohr geflüstert und sie hatte die Augen geöffnet und: „Jetzt nicht mehr, mein Schatz“, gemurmelt. Es war noch immer wie eine eiskalte Faust, die sich um ihr Herz klammerte, wenn sie morgens allein im Bett lag, und wusste, ihr Kind würde nicht mehr kommen. Nie wieder. Jeder Morgen ein neuer Tod.
„Ich denke ...“, fing sie an und verstummte. Isabell war tot, aber sie, Marion, lebte noch. Sie liebte noch. Sie hob den Blick und sah ihren Mann an. „An gar nichts“, sagte sie schnell und fühlte ihr Herz bis zum Hals klopfen. „Bestellst du uns noch einen Wein?“ Er hob die Hand, um dem Kellner die Bestellung zu signalisieren und er schaffte es sofort, dessen Aufmerksamkeit zu gewinnen. Unwillkürlich musste sie lächeln: „Weißt du noch, wie du bei unserem allerersten Rendezvous stundenlang mit den Fingern geschnipst hast und kein Kellner ist gekommen?“ „Ja“, sagte Hendrik und lachte. „Und du bist schließlich so wütend geworden, dass du einen Kellner festhalten wolltest und er mit seinem vollen Tablett gestolpert ist.“ Sie lachten jetzt beide, in Erinnerungen an früher versunken. Es geht nicht, dachte sie, es ist besser für uns beide. Wir müssen uns trennen. Und als sie ihn anschaute, wusste sie auch wieder, warum.
Er erinnerte sie an Isabell, jeden Tag, jede Minute. Sie hatten die gleichen, leicht schrägen Augen mit dichten Wimpern, den gleichen Wirbel an der rechten Schläfe, das gleiche Grübchen im Kinn gehabt – deshalb war es jedes Mal, wenn sie Hendrik ansah, als würde eine kaum verheilte Wunde wieder aufreißen. Es war eine Qual für sie.
„Hendrik“, begann sie und dachte, ... jetzt, JETZT! „Also, ich finde, wir müssen, wir sollten uns ...“
Er schob die vollgerollte Spaghettigabel in den Mund und sah sie grinsend an, in seinen Augenwinkeln kringelten sich die Lachfältchen wie kleine Schweineschwänzchen. Ich kann keine Ehe mit einem Mann beenden, der seinen Mund voller Spaghetti hat, dachte sie, und wäre die Situation nicht so angespannt, sie hätte fast laut losgelacht. Aber sie war es trotz der Spaghetti und deshalb bemühte sie sich um Konzentration. Los, jetzt, Marion. Sag es ihm. Fang an. Einen Satz nach dem anderen.
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