Holst, Evelyn
Frau hatte Schuld. Sie beide. Seine Frau hatte geweint. Sie hatte sich selbst belastet und damit ihr, Leonies Gewissen entlastet. Das zeugte von Größe! Sie war eine gute Frau. Die viel gelitten hatte. Hendrik würde sie nie verlassen. Er durfte es nicht. Sie würde es auch gar nicht mehr wollen.
Und dann wurde das Urteil gesprochen. Freispruch.
Und er war Leonie völlig gleichgültig. Denn erst jetzt hatte sie Hendrik für immer verloren.
38. Kapitel
Auch Marius fühlte sich wie betäubt. Wie Leonie diesen Hendrik von Lehsten angesehen hatte! So angesehen zu werden von ihr, das wünschte er sich seit langem, und ihm war jetzt schmerzhaft klar geworden, dass es dazu nie kommen würde. Leonie liebte diesen Mann, daran bestand kein Zweifel mehr für ihn, und ihn, Marius, liebte sie nicht, nicht so, wie er geliebt werden wollte. Er nahm endgültig Abschied von seiner unerfüllten Sehnsucht und es war fast wie eine Befreiung für ihn. Nach der Urteilsverkündung nahm er sie zur Seite. „Wohin jetzt?“, fragte er sie. „Nach Hause?“ „Ich wäre gerne noch etwas allein!“, sagte Leonie wie abwesend. „Wenn du vielleicht die Kinder …?“ „Na klar. Bis später dann.“ „Danke, du bist ein wahrer Freund!“, sie sah ihn mit schwimmenden Augen an. Ja, dachte Marius. Ein Freund. Wenigstens das. Und das werde ich auch bleiben, nahm er sich fest vor, denn einen kleinen Platz für sich und seinen Sohn in Leonies und Lunas Leben wollte er behalten, dafür würde er sich seine Liebe zu ihr endgültig aus dem Herzen reißen. Und schließlich gab es ja auch noch Cora.
Als er an ihrer Tür klingelte, hörte er schon von draußen, dass sich die Kinder blendend amüsiert hatten. Cora öffnete. Ihre Augen leuchteten, als sie ihn sah: „Komm rein“, sagte sie. „Fühl dich wie zu Hause.“
Er betrat ihre Wohnung und fühlte ein großes Glück in seinem Herzen.
„Papa, Papa, Nemo ist super!! Ich will auch ein Aquarium, bitte, liebster Papa, biiitteeee!“, riefen ihm Malte und Luna entgegen. Sie glühten und sahen sehr zufrieden aus.
„Wir hatten einen tollen Tag, nicht, Kinder?“, sagte Cora. „Und jetzt backen wir gerade Kekse. Wir hatten noch gar nicht mit dir gerechnet! Auch einen Kaffee?“
„Ja, sehr gerne!“, sagte Marius und er spürte, wie ihm leichter ums Herz wurde. Er fühlte sich zuhause. „Papa, Cora ist ’ne nette Frau, die könntest du vielleicht auch mal heiraten“, flüsterte Malte ihm ins Ohr. Marius grinste und dachte: Ja, das könnte ich durchaus vielleicht mal tun.
39. Kapitel
Es war der 23. September, Herbstanfang. Hamburg zeigte ausnahmsweise, dass es auch um diese Jahreszeit noch Sonne satt herbeizaubern konnte. Es war ein Schokoladentag mit knallblauem Himmel und strahlendem Sonnenschein.
Marion und Hendrik saßen am Frühstückstisch. Die Atmosphäre im Hause von Lehsten hatte sich verändert. Die Gereiztheit war verschwunden und hatte einer irgendwie fatalistischen, jedenfalls recht friedlichen Stimmung Platz gemacht.
Zum ersten Mal seit damals hatten sie über Isabell sprechen können, ganz ruhig, ohne Vorwürfe, Streit und Tränen. „Glaubst du, sie könnte denken, ich wollte sie ersetzen?“, hatte Marion ängstlich gefragt. Hendrik musste nicht fragen, von wem die Rede war.
„Nein, das glaube ich nicht“, sagte er leise. „Ich glaube, sie hat dir das Baby zum Trost geschickt. Direkt von der Himmelswolke, auf der sie sitzt und uns beobachtet. Du hast genug Liebe für beide.“ Marion stiegen die Tränen in die Augen. Tränen des Abschieds von ihrem ersten Kind und Tränen der Freude über die Ankunft ihres zweiten.
Hendrik sah seine Frau ernst an: „Und glaubst du, mein Unfall ist die Strafe dafür, dass ich Isabell …?“ Marion fiel ihm energisch ins Wort: „Nein, DAS glaube ICH nicht!“, rief sie. „Es war so egoistisch von mir, dir alle Schuld zuzuschieben, ich musste einfach irgendwo hin mit meiner Verzweiflung! Bitte verzeih mir, Hendrik! Es war ein Unfall, das sehe ich jetzt ein. Und das andere war auch ein Unfall, ein schrecklicher Unfall. Es heißt ja immer: Alles hat seinen Sinn! Es ist nur so schwer, einen zu erkennen …“ Hendrik dachte flüchtig an Leonie. Machte es einen Sinn, dass er sie kennen – und lieben gelernt hatte. Wäre sein Leben glücklicher ohne die Sehnsucht nach ihr? Er hatte keine Antwort.
Er hatte nur Sehnsucht. Leider. Immer noch. Jeden Morgen dachte er als erstes an sie. Den Gedichtband von Erich Fried hatte er
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