Holst, Evelyn
eigentlich bist, ich stehe tief in deiner Schuld!“
Und ich in deiner, dachte Ludwig. Du ahnst ja gar nicht, wie tief.
Hendrik holte tief Luft. Jetzt, dachte er, werde ich ihm von Leonie erzählen. Ich muss einfach endlich mit jemandem reden, ich ersticke sonst daran. Ludwig kann zuhören und er verurteilt nicht so schnell. Außerdem kann er schweigen. Schließlich ist er noch immer mein bester Freund. „Ich muss dir vor dem Prozess noch etwas sagen, was du niemandem erzählen darfst“, fing er an, da klingelte das Telefon: „Herr von Lehsten, bitte verzeihen Sie die Unterbrechung, ich weiß, Sie wollten nicht gestört werden. Aber da ist eine Leonie Baumgarten in der Leitung und sie lässt sich partout nicht abwimmeln!“, kam die Stimme von Regina Schneider aus dem Hörer. Sofort fing sein Herz an, stürmisch zu klopfen. „Ist gut, Regina. Stellen Sie durch“, sagte er und drehte seinen Kopf zur Seite, wie um mit Leonies Stimme allein zu sein. Er musste sich räuspern, trotzdem klang sein „Ja?“ so heiser, als versagte ihm die Stimme. Er fühlte Ludwigs besorgten Blick und lächelte ihm zu. Alles in Ordnung.
„Hendrik?“, auch Leonies Stimme klang leise und belegt. „Ich wollte … auch wenn wir uns jetzt als Gegner … ach, Scheiße. Ich wollte dir einfach noch einmal sagen, dass ich dich liebe. Es soll dir gut gehen, mit mir oder ohne mich. Dies soll unser Abschied sein, nicht der nachher vor Gericht. Der zählt nicht. Ich weiß, dass du mich liebst und du sollst wissen, dass auch ich dich liebe.“
„Leonie, ich …“, aber da hatte sie schon aufgelegt. Er starrte den Hörer an, aus dem ihre Stimme verschwunden war, legte langsam auf und drehte sich um. „Ludwig, das war …“
Es klopfte wieder. Regina steckte ihren Kopf durch die Tür. „Sie müssen jetzt los, Herr von Lehsten, Herr Kaltenberg, mit dem Rollstuhl dauert das alles ein bisschen länger, der Richter wartet nicht gern!“
Ludwig und Hendrik schauten sich an. In beiden brannte das Verlangen, sich dem anderen anzuvertrauen, aber Regina stand mahnend in der Tür, der Moment war verpasst.
37. Kapitel
Leonie legte den Hörer auf. Im Nebenzimmer saß Marius und wartete auf sie. Die Kinder hatte er zu Cora Böhm gebracht. Er hatte sie während ihrer letzten Fahrt einfach gefragt, ob sie als Babysitterin einspringen könnte, und sie hatte sofort eingewilligt. Luna und Malte waren sehr begeistert gewesen, als er sie bei Cora abgegeben hatte, denn sie hatte den beiden vorgeschlagen, ins Kino zu gehen und „FINDET NEMO“ zu gucken und ihnen außerdem ins Ohr geflüstert, dass ihrer Meinung nach zum Kino unbedingt ein Rieseneis gehört „so groß, dass man Bauchweh davon kriegt“. Damit hatte sie bis in alle Ewigkeiten ihre kleinen Herzen im Sturm erobert.
Leonie hatte gar nicht weiter nachgefragt, als Marius sagte, er hätte die Kinder gut untergebracht. Sie vertraute ihm blind und schien gar nicht mitzubekommen, was um sie herum vorging. Sie fühlte sich nur noch wie ein Schatten ihrer selbst, dünn und traurig. Als sie jetzt zu Marius ins Zimmer kam, wurde ihm bei ihrem Anblick das Herz schwer, so zerbrechlich sah sie aus. „Wenn wir das heute überstanden haben, dann geht’s bestimmt aufwärts!“, versuchte er sich und ihr Mut zu machen.
Sie schaute ihn nur an. „Auf in den Kampf“, sagte Marius seufzend und nahm ihre eiskalte Hand. „Der Richter wartet nicht gern!“
„Was haben wir als nächstes?“, Richterin Dr. Ruth Eichendorf warf ihrer Sekretärin Monika Froh einen fragenden Blick zu. „Der Vormittag war grauenvoll. Langeweile pur. Nur Raser, Drängler und andere Verkehrsrowdies, nirgendwo das kleinste bisschen Einsicht. Freche Lügen, dummdreiste Kerle. Jetzt bräuchte ich mal was für’s Herz!“
„Da könnten Sie Glück haben, jedenfalls verspricht der nächste Fall ein bisschen Drama“, lächelte Monika und schob ihrer Chefin die Akte hin, außerdem ungefragt einen dampfenden Cappuccino. „Sie sind die Beste!“, seufzte Dr. Eichendorf zufrieden. „Ich weiß!“, kam die Antwort, sie waren seit Jahren ein eingespieltes Team.
„Na, dann mal auf ins Gefecht!“
Marius hatte im Zuschauerraum Platz genommen. Zu seiner größten Verblüffung saß in der Reihe vor ihm sein seltsamer Stammfahrgast vom Marienkrankenhaus. Einer dieser Langzeitarbeitslosen, die ihre zu viele Freizeit als Spanner im Gericht verbrachten? So sah er wirklich nicht aus. Die Männer hatten sich verwundert gemustert und mit einem
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