Holunderliebe
gemacht, dass Irmela schwanger war. Auf diesem Bild bis du also schon dabei.«
Es folgten einige Bilder von den Feierlichkeiten, und auf einem davon sah ich meine Eltern miteinander tanzen. Sie wirkten glücklich, hielten sich eng umschlungen. Und mein Vater, also Wolfgang, war noch um einiges dünner als heute.
Noch ein paar Bilder von der hochschwangeren Irmela, und dann sah ich mich als Säugling in den Armen meiner Mutter. Natürlich hatte ich schon früher Babyfotos von mir gesehen, aber eben nicht zusammen mit meiner leiblichen Mutter. Ihr Blick rührte mich an. Sie lächelte warm und voller Liebe, und ein kleines bisschen von dieser Liebe kam auch bei mir an, mit vierundzwanzig Jahren Verspätung.
Ich blätterte um und kam zu den letzten Bildern des Albums. Diesmal waren nicht nur meine glücklichen Eltern und ich auf dem Foto zu sehen, sondern auch ein weiteres Ehepaar, ebenfalls strahlend und Arm in Arm. Eine schmale Frau mit schwarzen Locken, die sich um ihr helles Gesicht kringelten. Sie war größer als ihr Mann, der mir mit seinem freundlichen Gesicht auf Anhieb Vertrauen einflößte. Mein Blick wanderte zurück zu der Frau. Ihr Gesicht kam mir seltsam vertraut vor, mir wollte nur um alles in der Welt nicht einfallen, woher.
Dann betrachtete ich den Hintergrund. Die Kirche in der alten Klosteranlage der Reichenau. Die vier standen da, wo sich inzwischen der Nachbau des Hortulus befand. Und erst jetzt bemerkte ich die Spaten, die Geräte und die Bretter, die zum Anlegen der Beete benötigt wurden. Sie waren zu jenem Zeitpunkt anscheinend damit beschäftigt gewesen, den Garten anzulegen.
»Das ist auf der Reichenau!« Ich sah überrascht auf. »Dann muss das kurz vor dem Unfall gewesen sein.«
»Zumindest ist es das letzte Bild, das deine Eltern bei der Arbeit zeigt, zusammen mit dem Ehepaar, das ebenfalls ums Leben gekommen ist. Wahrscheinlich waren die beiden auch Wissenschaftler.«
Mit einem Mal war mir klar, wem die Frau ähnlich sah. »Dieses andere Ehepaar, bist du dir sicher, dass es Wissenschaftler waren? Wie hießen die eigentlich? Und was haben meine Eltern genau auf der Reichenau gemacht?«
Meine Mutter legte ihre Stirn in Falten. »Richtig, es ging um einen alten Klostergarten, den sie rekonstruieren wollten. Dabei haben sie sich an irgendwelche Originalanweisungen gehalten …«
»Das sind genau die Anweisungen, die Brunhilde in dem alten Manuskript gefunden hat«, erklärte ich. »Ich habe euch doch von dem lateinischen Gartengedicht erzählt, davon gibt es nämlich mehrere Handschriften.«
»Ach, das war wirklich das gleiche Gedicht? Was für ein Zufall!«, rief meine Mutter. »Aber der Name der anderen Wissenschaftler … Sie haben immer nur von Hanna und Peter gesprochen. Ich habe sie aber nie persönlich kennengelernt. Und dann waren alle vier tot, und wir mussten uns von einem Tag auf den anderen um ein Neugeborenes kümmern. Bis zu diesem Moment wusste ich nicht einmal, dass Irmela und Christian uns als Vormund für dich bestimmt hatten, falls ihnen etwas zustoßen sollte. Ich meine, sie waren doch nur Historiker auf einer Bodenseeinsel. Es gibt riskantere Jobs auf dieser Welt. Keine Ahnung, warum sie so ein Testament geschrieben haben.«
»Vielleicht waren sie einfach fürsorgliche Eltern«, mutmaßte ich.
In diesem Moment meldete sich mein Vater zu Wort, der uns bis jetzt beim Durchblättern des Albums schweigend zugesehen hatte. »Du solltest auch wissen, dass wir oben unter dem Dach eine große Kiste mit dem Nachlass deiner Eltern aufbewahren. Wenn du willst, dann kannst du dir die Sachen ansehen.«
»Ja, gerne!« Ich stand auf. »Jetzt gleich?«
»Ich zeige dir, wo die Kiste steht.« Mit seiner gemächlichen Art brachte er mich auf den Speicher des Hauses, in dem alte Möbel, Kartons und Koffer herumstanden. Mein Vater deutete auf eine große Holztruhe und öffnete sie.
»Die Kleidung deiner Eltern haben wir damals zur Caritas gegeben«, erklärte er. »Die wissenschaftlichen Bücher haben wir komplett der Universität vermacht, denn was sollten wir damit? Was du hier siehst, sind die persönlichen Dinge. Wir haben uns vorgestellt, dass wir sie dir irgendwann einmal zeigen, damit du deine Eltern besser kennenlernen kannst. Wir hätten dir all das früher sagen sollen. Es tut mir leid, dass wir nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden haben. Wie fühlst du dich, Lena?«
»Wie betäubt, als würde ich unter einer großen Glasglocke sitzen. Ich glaube, es wird noch
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