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Holunderliebe

Holunderliebe

Titel: Holunderliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Tempel
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Auf dem Damm ist dann das Unglück passiert.«
    Mit einem Mal erinnerte ich mich an das merkwürdige Gefühl, das mich heute beim Überqueren des Dammes überfallen und das ich zu ignorieren versucht hatte. Jetzt fügte sich alles wie ein Puzzle zusammen.
    »Was wollten sie denn auf der Reichenau? Warum ausgerechnet dort …«
    »Das haben wir uns auch gefragt, als du jetzt unbedingt auf diese Insel wolltest. Gibt es so etwas wie einen Fluch, der auf einer Familie liegt? Ich glaube nicht an so etwas. Es ist ein Zufall. Und doch …«
    Ich zögerte, bevor ich es wagte, meine nächste Frage zu stellen. »Gibt es ein Bild von den beiden? Ich würde gerne wissen, wie sie ausgesehen haben.«
    Meine Mutter nickte und stand auf. »Ich habe ein Album für dich gemacht. Ich habe mir immer vorgestellt, wie wir dir eines Tages die Geschichte von deinen leiblichen Eltern erzählen. Und dann haben wir den richtigen Zeitpunkt nicht gefunden. Wollten ihn vielleicht auch nicht finden. Mal warst du gerade unglücklich verliebt, dann wieder hattest du Probleme in der Schule, oder du warst in einer rebellischen Phase und hast nicht auf uns gehört … Wir waren keine Helden, ganz bestimmt nicht.«
    Sie verschwand im Inneren des Hauses und tauchte wenig später mit einem in Leinen gebundenen Buch wieder auf. Sie schlug es auf – und mit einem Mal schien es mir, als würde sich eine neue Tür öffnen: Da lächelte mich meine Mutter mit einer anderen jungen Frau im Arm an, die mir ohne Zweifel ähnlich sah. Weit auseinanderstehende Augen und sehr zierlich. Meine Mutter – oder sollte ich sie jetzt Thea nennen? – deutete auf diese Frau und sagte: »Das ist Irmela. Das Bild wurde bei unserem letzten gemeinsamen Urlaub mit unseren Eltern gemacht. Da war ich sechzehn und sie neunzehn – und sie wäre wohl lieber auf irgendwelche Exkursionen gefahren. Entspannen am Strand war da schon lange nicht mehr ihr Ding.«
    Sie sah das Bild lächelnd an. »Aber ich denke, sie hat es trotzdem genossen. Den Urlaub, meine ich. Wir waren in Italien, und da konnte sie ja hin und wieder losziehen und alte Steine ansehen.«
    Sie blätterte um, und ich sah ein Bild von meiner Mutter Irmela, wie sie neben einem ernsten jungen Mann inmitten von alten Mauern stand. Die beiden betrachteten irgendein Fundstück in ihren Händen, ihre Köpfe berührten sich fast.
    »Dein Vater«, erklärte die Frau, die ich bis vor einer halben Stunde für meine Mutter gehalten hatte. »Christian war immer so ernst. Bis heute weiß ich nicht so ganz, was Irmela an diesem Mann gefunden hat. Er hat ihr die letzte Unbeschwertheit genommen, zumindest habe ich das so gesehen.«
    Es folgten weitere Bilder. Christian und Irmela vor einer Burgruine und vor irgendwelchen Pyramiden, es gab aber auch Fotos von einer Studentenparty. Es musste Anfang der Achtzigerjahre gewesen sein: Irmela trug eine Dauerwelle, die ihr wirklich nicht stand, und die damals üblichen Bundfaltenhosen, dazu Schulterpolster. Christian machte die Mode nur verhalten mit. Zwei Seiten weiter entdeckte ich meine Eltern bei einer Kundgebung gegen das Atomwaffenlager in Mutlangen. Ich lächelte meine Mutter von der Seite her an. »Waren die etwa Gründungsmitglieder bei den Grünen?«
    »Das nicht, aber sie hätten es sein können. Sie haben die neue Partei unterstützt, haben gegen die Pershings, Wackersdorf und Mutlangen demonstriert.« Sie sah versonnen aus. »Damals sind wir uns noch einmal nähergekommen, wir haben für die gleichen Ideale gekämpft. Aber dann haben deine Eltern ihren Uniabschluss gemacht. Sie haben promoviert und hatten immer weniger Zeit für die Politik und die Gesellschaft. Mittelalter – das war ihr Ding.«
    »Und du?«
    »Ich habe mich damals entschieden, Lehrerin zu werden. Ich mag die Arbeit mit Kindern und denke, dass man auch so die Zukunft verändern kann. So wie ich überhaupt glaube, dass es wichtiger ist, die Zukunft zu gestalten, als die Vergangenheit zu verstehen. Wahrscheinlich war das der Grund, warum Irmela und ich uns ein wenig aus den Augen verloren haben.«
    Sie blätterte wieder um, und ich sah meine Mutter im Brautkleid, wie sie ihren Mann anstrahlte. Er sah immer noch ernst aus. »Hat er nicht einmal an seinem Hochzeitstag gelacht?«, entfuhr es mir unwillkürlich.
    »Ich glaube nicht. Meiner Meinung nach hat Christian alles viel zu ernst genommen. Damals habe ich auch nicht verstanden, warum die beiden plötzlich heiraten wollten. Sie haben ein Geheimnis daraus

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