Holunderliebe
eine Weile dauern, bis ich weiß, was ich eigentlich fühle.«
»Denk daran, ich bin immer für dich da.« Er sah mich aufmerksam an. »Und jetzt bringe ich dir noch eine Tasse Kaffee und lasse dich allein mit diesen Erinnerungen. Wenn du Fragen hast: Wir sind im Garten.«
Damit verschwand er, kam kurz darauf mit einem großen Milchkaffee nach oben und ließ mich dann endgültig allein. Ich spähte ratlos in die Truhe. Womit sollte ich nur anfangen? Wahrscheinlich hätte ich trauern sollen, aber ich kannte diese Menschen, die meine leiblichen Eltern waren, doch gar nicht. Denn die Eltern, die mich aufgezogen und immer geliebt hatten, die waren nicht tot.
Zugleich erinnerte ich mich an dieses Gefühl, das mich zeit meines Lebens verfolgt hatte. Dieser Gedanke, dass irgendetwas fehlte, ohne dass ich hätte sagen können, was. Hatte dieser Mangel, den ich immer gespürt hatte, etwas mit der Vergangenheit zu tun, von der ich nicht gewusst hatte? Entschlossen griff ich zu einem Buch, das obenauf lag, und schlug es auf. Ein Tagebuch, wahrscheinlich von Irmela, die Schrift sah weiblich aus. Ich versuchte, die Schnörkel zu entziffern. Es begann etliche Jahre vor ihrem Tod, sie schrieb über Professoren, Freunde, wissenschaftliche Arbeiten. Nach zwei oder drei Seiten legte ich es weg.
Als Nächstes fischte ich einen dicken Wollschal aus der Truhe – offensichtlich selbst gestrickt –, dann einen Pokal für irgendein Wettschwimmen. Die Gravur verriet, dass mein leiblicher Vater offensichtlich ganz gut kraulen konnte. Zumindest auf einer Distanz von zweihundert Metern. Merkwürdig, auf den Fotos hatte er keinen sehr sportlichen Eindruck auf mich gemacht. Dann ein Beutel voller Muscheln, vermutlich von einem Strandspaziergang im Urlaub. Ich lächelte. In meinem alten Kinderzimmer stand auch eine Schale voller Muscheln, die ich aus aller Herren Länder zusammengetragen hatte.
Dann ein Stapel Briefe, liebevoll mit einem verblichenen roten Band zusammengebunden. Ich öffnete die Schleife und nahm den obersten heraus. Eine kantigere Schrift, wahrscheinlich die von Christian. Das Datum lag zwei Jahre vor meiner Geburt. Waren sie da schon verheiratet gewesen? Ich las:
Liebste Irmela,
es tut mir leid, wenn ich in diesen Tagen nicht bei Dir sein kann. Es muss wunderbar sein, wenn man so hautnah anwesend sein kann, wenn Geschichte geschrieben wird. Zumindest Wissenschaftsgeschichte. Ich würde Dir gerne etwas Gutes tun, wenn Du abends nach Hause kommst und Dich müde auf das Sofa legst. Einen Teller Nudeln kochen oder Dir ein Glas Wein einschenken. Dann würde ich Dir die Füße massieren, und Du erzählst mir mehr über Dein Abenteuer mit den Karolingern. Wie gerne wäre ich jetzt dabei ... Du fehlst mir so sehr, während ich gelangweilten Erstsemestern die Grundlagen der Numismatik eintrichtere. Den meisten merkt man an, dass sie Geschichte nur studieren, weil sie ein zweites Fach für ihre Laufbahn als Lehrer gesucht haben. Sie wollen ihren Abschluss machen, sind aber an den Inhalten nicht interessiert. Schrecklich. Ich denke, genau so ist Deine Schwester. Nett, aufgeschlossen und an den größeren Zusammenhängen nicht interessiert. Gemein, ich weiß, aber umso mehr freue ich mich, in Dir eine verwandte Seele gefunden zu haben. Jemanden, der versteht, warum ich mich in Büchern und alten Schriften vergrabe. Du bist meine perfekte Ergänzung, meine große Liebe. Ich kann es kaum erwarten, Dich wiederzusehen!
Dein Christian
Meine Eltern hatten sich und die Wissenschaft geliebt, daran gab es keinen Zweifel. Woran Irmela in der Zeit wohl gearbeitet hatte? Ich sollte mal im Internet nach ihren Veröffentlichungen suchen. Wahllos zog ich einen weiteren Brief aus dem Stapel. Das Datum lag über ein Jahr später. Die Schrift hatte sich nicht verändert.
Meine Liebste,
das sind ja wunderbare Nachrichten. Ich komme, so schnell es geht, zu Dir und helfe Dir. Du solltest Dich jetzt nicht mehr so sehr körperlich anstrengen. Oder ist das wieder nur eines dieser Märchen, das man in Filmen und kitschigen Büchern beigebracht kriegt? Ich kann es immer noch nicht glauben: Schon bald werden wir Eltern. Das ist doch eine ungleich größere Leistung als nur das Aufdecken eines tausend Jahre alten Rätsels! Ich war gestern sehr traurig, dass Du so geweint hast – dabei sollten wir uns doch freuen! Wir schaffen das schon, gemeinsam kriegen wir das hin. Ich sehe es schon vor mir: Das Baby krabbelt über den Boden, und wir beide
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