Holunderliebe
Das war die heile Welt meiner Kindheit.
Der Augenblick war schnell vorüber. Meine Mutter schob mich auf Armeslänge von sich und sah mich prüfend an. »Du siehst schmal aus. Hast du auf der Insel nichts zu essen gefunden?«
»Doch, schon. Ich habe nur nicht immer daran gedacht, mir etwas zu organisieren«, wehrte ich ab. »Aber das ist nicht so schlimm. Ein oder zwei Kilo weniger schaden doch nicht.«
»Wenn man eine Figur wie du hat, dann schon«, erklärte meine Mutter streng. Sie ist von jeher der Meinung, dass ich etwas zu dünn sei, und lässt sich auch nicht belehren, dass ich eben ein bisschen zierlicher als der Rest der Menschheit bin. Nichts, worum man sich Sorgen machen sollte.
»Komm mit auf die Terrasse«, meinte sie lächelnd. »Das Mittagessen ist gleich fertig. Ich habe einen Nudelauflauf gemacht, den magst du doch gern, nicht wahr?«
Ohne große Gegenwehr ließ ich mich auf die Terrasse hinter dem Haus führen. Eines der wenigen Projekte meiner Eltern, die sie mit Bravour abgeschlossen haben. Der Boden besteht aus Holzplanken, die im Lauf der Jahre hell verwittert sind. Auf der einen Seite wuchert eine Rambler-Rose in eine alte Kiefer empor, die wahrscheinlich allmählich von dem stacheligen Wuchsmonster umgebracht werden wird – aber es sieht großartig aus. Ein paar Terrakottatöpfe mit Kapuzinerkresse, Rosmarinsträuchern und herrlichen Verbenen sorgen dafür, dass man sein Essen mit frischen Kräutern direkt nachwürzen kann. Besonders die Kapuzinerkresse sieht nach so manchem sonnigen Wochenende reichlich zerrupft aus. Auf der anderen Seite hat mein Vater einen Grill gemauert, der mit seinen alten Sandsteinen ein eigenwillig historisches Aussehen bekommen hat. Mein Vater deckte gerade den Tisch und sagte zur Begrüßung: »Dann hole ich noch einen Teller, mein Liebes.«
Und ich? Ich ließ mich einfach auf den Gartenstuhl fallen, auf dem ich immer saß. Zog meine Schuhe und die Socken aus, spielte mit meinen Zehen in der Sonne und hielt mein Gesicht in ihre wärmenden Strahlen. Alle Probleme waren weit weg.
Erst als ich eine dampfende Portion Nudelauflauf mit viel Gemüse und ein wenig Lachs vor mir auf dem Teller hatte, fragte meine Mutter: »Wie war es denn auf der Reichenau? Hast du irgendetwas gefunden, was dir mit dem Manuskript weitergeholfen hat?«
»Nicht wirklich. Ich dachte, ich wäre einem Geheimnis auf der Spur. Das Merkwürdige an diesem Gedicht ist das vierundzwanzigste Kraut: Alle anderen werden haarklein beschrieben, nur bei diesem weiß bis heute niemand, was Walahfrid da eigentlich meint. Und ausgerechnet ich habe mir eingebildet, ich könnte dieses Rätsel lösen. Tatsächlich liegt im Auto ein Taschentuch, in dem ein mickriger Trieb versucht zu überleben. Wenn ich Glück habe, dann ist es das geheimnisvolle Ambrosiakraut.«
Ich stand auf und wischte meinen Mund mit einer Serviette ab. »Ich sollte das Ding sofort holen, im heißen Auto wird es bestimmt nicht besser.«
Damit rannte ich zum Wagen, öffnete die Tür und rettete das feuchte Taschentuch vor dem Austrocknen. Zurück bei meinen Eltern, legte ich es in den Schatten und öffnete es ein klein wenig, damit die Blätter wieder Luft bekamen.
»Wie bist du denn auf dieses Kraut gekommen?«, fragte meine Mutter neugierig und sah sich die kleine Pflanze genau an.
»Die ist ganz plötzlich in einem historischen Nachbau des Gartens aufgetaucht. Ich habe sie dem dort lebenden Kräuter- und Gartenexperten gezeigt, aber der konnte damit nichts anfangen. Am nächsten Tag war die Pflanze komplett untergegraben. Komische Sache – ich meine, wer zerstört schon eine gesunde, seltene Pflanze?«
»Was für ein Kräuterexperte war das denn?«, erkundigte sich mein Vater.
»Simon Linde heißt er. Seine Familie hat schon seit Jahrhunderten einen Kräutergarten auf der Reichenau, und er baut Sachen an, von denen selbst ich noch nie gehört habe. Wir haben zusammen gekocht und gegessen – ein richtig netter Mann. Bis ich dieses komische Kraut gefunden habe. Da war es so, als hätte sich bei ihm über Nacht ein Schalter umgelegt: Plötzlich hat er angefangen, irgendwelchen Unsinn zu faseln. Er hat zum Beispiel behauptet, dass meine Eltern längst tot seien. Dabei sitze ich in diesem Moment hier bei euch und esse euren Nudelauflauf. Keine Ahnung, vielleicht wird man wunderlich, wenn man zu lange auf so einer Insel lebt …«
Erst jetzt merkte ich, dass meine Eltern auf einmal sehr ernst aussahen und vielsagende Blicke
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