Holunderliebe
tauschten. Mein Redestrom versiegte.
»Was habt ihr denn?«, wollte ich wissen. »Seid ihr so erschrocken, bloß weil ein Kräuterladenbesitzer so einen Unsinn über euch verbreitet? Ich denke, diese Welt muss euch noch ein ganzes Weilchen ertragen.«
Meine Mutter legte ihre Gabel zur Seite, als sei ihr mit einem Mal der Appetit vergangen. »Lena, wir müssen dir etwas erzählen. Wir hätten das schon vor Jahren machen sollen, aber wir haben immer auf den perfekten Zeitpunkt gewartet, der natürlich nie gekommen ist. Auch jetzt ist er nicht perfekt – aber ich glaube, wir müssen endlich die Wahrheit auspacken.« Sie sammelte sich und fuhr sich kurz über das Gesicht, bevor sie weitersprach. »Deine Eltern sind wirklich tot.«
Ich spürte, wie mein Mund trocken wurde. Ich brachte keinen Ton heraus, griff mit zitternden Händen nach meinem Mineralwasserglas und stieß es dabei um. »Ich hole eben einen Lappen!«, rief ich und sprang auf. Noch bevor meine Eltern mich stoppen konnten, war ich weg. In der Küche lehnte ich mich einen Augenblick gegen den Kühlschrank und atmete tief durch, damit der Schwindel in meinem Kopf endlich aufhörte. Meine Hände zitterten immer noch, als ich nach einem frischen Glas griff, ein wenig Wasser aus dem Hahn hineinlaufen ließ und einen großen Schluck trank. Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und kam zurück auf die Terrasse.
Sorgfältig wischte ich das verschüttete Wasser wieder auf, erst dann wagte ich, meiner Mutter in die Augen zu sehen.
»Was hast du eben gemeint, als du gesagt hast, meine Eltern seien wirklich tot?«, fragte ich schließlich. »Wer waren denn meine richtigen Eltern? Und wer seid ihr?«
Jetzt griff mein Vater ein. Seine tiefe, ruhige Stimme ließ schon immer jede Katastrophe nur halb so schlimm aussehen. »Wir lieben dich, als wärest du unsere eigene Tochter. Und du lebst bei uns, seit du wenige Wochen alt warst, du kannst also keine Erinnerung an deine leiblichen Eltern haben. Aber in Wirklichkeit ist deine Mutter Thea deine Tante. Und deine richtige Mutter ist ihre Schwester Irmela. Ich bin dein Onkel.« Er zögerte einige Sekunden und suchte nach den richtigen Worten. Dann lächelte er verlegen. »Jahrzehntelang habe ich diese Rede geübt und mir immer wieder überlegt, wann der richtige Zeitpunkt sein würde, sie zu halten. Und jetzt habe ich alles vergessen, was ich dir sagen wollte. Außer dem einen: Wir lieben dich wie unser eigenes Kind, das wir leider nicht bekommen konnten.«
»Und wie …?« Meine Stimme versagte. Ich nahm einen neuen Anlauf: »Wie sind sie denn gestorben? Wer waren meine Eltern?«
Mein Vater – oder besser gesagt der Mann, den ich bis vor wenigen Minuten dafür gehalten hatte – schluckte. »Irmela war drei Jahre älter als Thea und in jeder Hinsicht anders. Sie war eine Wissenschaftlerin vom Scheitel bis zur Sohle. Ganze Tage und Nächte konnte sie sich in eine Bibliothek zurückziehen, wenn sie glaubte, einer Sache auf der Spur zu sein. Dein Vater war keinen Deut besser. Christian war ebenfalls Historiker und hatte sich auf das Mittelalter spezialisiert. Die beiden waren das perfekte Paar. Sie liebten sich und ihre Wissenschaft – alles andere erschien ihnen zweitrangig.«
Ich musste ihn unterbrechen. »Sie waren beide Historiker? Wirklich?«
Mein Vater nickte. »Deswegen haben wir dich wohl auch so sehr in deiner Studienwahl bestärkt. Wir fanden es schön, dass sich das Vermächtnis der beiden durchgesetzt hat. Du weißt schon: Da denkt man an den Kreis, der sich endlich schließt, und solche Dinge.«
»Wie sind sie gestorben?«, wiederholte ich. Mit einem Mal war keine Frage wichtiger als diese. Was hatte meine Eltern dazu gebracht, mich zu verlassen?
»Sie hatten einen Verkehrsunfall. Sind mit dem Auto von der Straße abgekommen, der Wagen hat sich einige Male überschlagen, und sie waren sofort tot. Genau wie ein weiteres Ehepaar, mit dem sie unterwegs waren. Die einzige Überlebende bei diesem Unfall warst du. Erst wenige Wochen alt. Offensichtlich wurdest du sofort aus dem Auto geschleudert, bist auf einem weichen Stück Wiese gelandet und hast nur ein paar blaue Flecken und Kratzer im Gesicht abbekommen. Dort haben dich die Sanitäter gefunden, als ihnen klar wurde, dass sie für die vier Toten nichts mehr machen konnten.« Mein Vater zögerte und sah mich mitfühlend an. »Das Ganze ist da passiert, wo du eben erst gewesen bist. Auf der Reichenau. Sie sind nachts Hals über Kopf weggefahren.
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