Holunderliebe
fertige Kupferkessel glänzten im dämmrigen Licht, die Feuer in den Essen glimmten nur leise vor sich hin. Schon bald gelangten sie auf das offene Feld hinter der Klosterstadt, allerdings hatte Hemma nicht den Weg hinunter zum Wasser gewählt, sondern strebte die leichte Erhöhung auf der Insel an. Dabei hielt sie seine Hand weiter fest umklammert.
»Wo gehen wir hin?« Thegan sah sich neugierig um. Ihn zog es seit seiner Ankunft auf der Sintlasau immer nur zum Wasser, hier in der Inselmitte war er noch nie gewesen. Sie erreichten die Anhöhe, auf der einige Büsche in voller Blüte standen und sich sacht im Wind wiegten. Nach allen vier Seiten konnte man von diesem Ort aus die Insel überblicken. In der späten Nachmittagssonne glitzerten die Wellen, in der Ferne konnte man schemenhaft das Ufer des Festlandes erkennen.
»Die Hochwart«, erklärte das Mädchen. »Ich komme oft hierher. Wenn ich nachdenken oder einfach nur meine Ruhe haben will, dann ist das ein wunderbarer Ort. Der Geist wird freier, wenn das Auge weit blicken kann. Finde ich zumindest.« Sie sah ihn von der Seite an. »Was meinst du? Gefällt es dir hier?«
»Es ist wunderschön. Doch ich bin neugierig: Wie kommt es, dass du an so einem einsamen Ort deine Ruhe suchst? Was möchte dein Geist ergründen, wenn er dann hier oben frei ist?« Er sah sie ernst an.
Für einen Augenblick verschwand das beständige Lächeln aus Hemmas Augen. Sie nestelte verlegen an einer der Fibeln, die ihr Obergewand verzierten. Dann zuckte sie mit den Achseln. »Mein Vater beschützt mich ein wenig mehr, als es meinem Alter angemessen wäre. Und er erlaubt mir nicht, das Leben zu führen, das ich gerne hätte. Das sorgt manchmal dafür, dass sich dunkle Gedanken bei mir breitmachen.«
»Tatsächlich?«, neckte Thegan sie. »Und ich dachte, du läufst beständig mit einem Lächeln durch die Welt?«
Hemma ließ sich jedoch nicht zu einem Lächeln verleiten. »Das denken alle. Hemma, die Fröhliche.« Sie drehte ihm den Rücken zu und sah für einen Augenblick in die Ferne. Der Wind strich über den See und ließ die wenigen Haarsträhnen flattern, die sich aus ihrem Kopftuch gelöst hatten. Thegan stand hinter Hemma und betrachtete den zarten Schwung ihres Halses. Er hob die Hand, um sie zu berühren – aber auf halbem Weg fiel ihm wieder ein, was sich schickte, und vor allem: was nicht. Er ließ die Hand wieder fallen.
»Bist du denn nicht ein fröhlicher Mensch?«, fragte er. »Vorhin auf der Tanzfläche kamst du mir vor wie das Mensch gewordene Lachen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht immer.« Mit einem Ruck drehte sie sich wieder zu ihm um. »Aber du hast recht: Heute ist ein Feiertag, heute sollte ich nicht Trübsal blasen. Ich wollte dir nur diesen Ort zeigen, weil ich ihn so schön finde. Und ich habe das Gefühl, dass du bei deinen unablässigen Wanderungen am Seeufer entlang vielleicht auch einmal ein neues Ziel haben solltest.«
»Du hast bemerkt, dass ich häufig umherlaufe?« Jetzt war es an ihm, überrascht zu sein.
»Ich denke, das weiß jeder hier auf der Insel. Ein Mann, dessen Hände untätig sind, fällt auf wie ein sprechender Gaul. Wenn ich meinem Vater helfe, dann bin ich immer am See – und du suchst dir meistens den Weg am Hafen entlang aus. Also kam ich nicht umhin, seit Wochen zu bemerken, dass du bei jeder Tages- und Nachtzeit unterwegs bist.« Sie sah ihn aus ihren leuchtend blauen Augen an. »Du scheinst mir aber nicht sehr glücklich zu sein, auch wenn du offensichtlich nicht dazu gezwungen bist, beständig zu arbeiten. Dabei ist das ein großes Geschenk, weißt du das? Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der Zeit für Müßiggang hat – oder dafür, einfach nur zum Vergnügen am See zu sein.«
Thegan breitete verlegen seine Arme aus. »Es war mir nicht klar, wie sehr ich auffalle. Ich kann allerdings auch nichts Unrechtes daran erkennen. Beim Kampf gegen die Mauren wurde ich verletzt, ich kann also noch nicht wieder das Schwert tragen. Während mein Körper allmählich heilt, dürften ein wenig Bewegung und erbauliche Gespräche mit den Mönchen doch eine gute Art sein, die Zeit zu vertreiben.«
»Zeit vertreiben?« Jetzt war sie ehrlich überrascht. »Aber wer will denn die Zeit vertreiben? Festhalten sollte man sie, solange man jung ist und die Sorgen des Lebens einen noch nicht niedergedrückt haben!« Sie musterte ihn genauer. »Oder ist es bei dir schon so weit, dass du dir das Ende deines Lebens herbeisehnst
Weitere Kostenlose Bücher