Holunderliebe
echte Menschen häufig von Dingen wussten, die noch nicht in der Schwarmintelligenz des Internets gelandet waren. Kräuterexperten schrieben nicht unbedingt Blogs wie Modefreaks oder Medienschaffende. Die wühlten lieber in der Erde und hatten damit meine ganze Sympathie.
Ich drehte mich auf die Seite und schloss die Augen – nicht ohne noch einmal entschuldigend an meine Eltern zu denken. Ich hatte mich seit meinem Eintreffen auf der Reichenau kein einziges Mal bei ihnen gemeldet, und sie machten sich bestimmt schon Sorgen. Jetzt war es zu spät, um bei ihnen anzurufen, aber ich nahm mir fest vor, es gleich morgen zu tun. Mit diesem Versprechen an mich selbst schlief ich ein.
11.
A ls ich am nächsten Morgen wieder aufwachte, fühlte ich mich gut erholt. Ich hatte fest und traumlos geschlafen und freute mich aufs Frühstück. Ohne die Miene zu verziehen, stellte meine Pensionswirtin unten im Essraum eine große Tasse Kaffee und einen Korb mit knusprigen Brötchen auf den Tisch. Womöglich hatte sie gar nicht bemerkt, dass ich einen kompletten Tag verschlafen hatte. Mit Begeisterung häufte ich frische Marmelade auf mein Brötchen, köpfte ein Ei und holte mir aus dem Kaffeeautomaten immer wieder einen tiefschwarzen Kaffee mit herrlich dampfendem Schaum. So sah für mich ein perfekter Morgen aus.
Erst als ich beim besten Willen nichts mehr essen konnte, stand ich auf und wandte mich mit meinem freundlichsten Lächeln an meine Wirtin. »Wo finde ich denn ein Geschäft für Kräuter und Tee?«
»Am Ortsausgang ist der Laden vom jungen Linde. Da finden Sie alles, was Sie brauchen. Und noch jede Menge Zeug, was Sie nicht brauchen.« Das klang nicht wie die beste aller Empfehlungen, aber ich erinnerte mich wieder an den wunderschönen Kräutergarten mit den Hochbeeten aus Weidengeflecht, vor dem ich gestern gestanden hatte. Das musste dieser Linde sein. Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg.
Das Wetter auf der Reichenau zeigte sich immer noch von seiner schönsten Seite, und ich erfreute mich an den Obstbäumen, die zum Teil schon in voller Blüte standen. So oder so ähnlich musste das Paradies aussehen.
Die Läden des kleinen Hauses standen jetzt weit offen, und die gekippten Fenster zeigten, dass hier jemand den Frühling in sein Haus einladen wollte. Auch die Tür zum Laden stand offen. Neugierig ging ich hinein.
Drinnen war es recht dunkel, aber zu meiner Überraschung waren im Hintergrund einige kleine runde Tische mit geflochtenen Stühlen zu erkennen. Offensichtlich war das hier nicht nur ein Laden, sondern auch ein Café – oder man konnte den Tee hier in aller Ruhe verkosten. Im Vordergrund stand eine Theke, deren goldfarbenes Holz an den Kanten durch den jahrzehntelangen Gebrauch völlig rund geschliffen war.
Auf der Theke stand eine alte Apothekerwaage mit kleinen Gewichten. Dahinter befand sich eine Unzahl von Schubladen, Blechdosen und Glasbehältern. Über allem lag der Geruch nach Tee, Kräutern, Blüten und Minze. Wer hier zu tief einatmete, wurde berauscht oder zumindest wieder gesund. Unwillkürlich musste ich lächeln. In diesen kleinen Räumen, die mit einem Durchbruch verbunden waren, fühlte ich mich auf Anhieb so wohl, als wäre ich in meinem eigenen Wohnzimmer.
»Was kann ich für dich tun?«, erklang eine tiefe Stimme aus dem Dunkel des Ladens. Ich zuckte zusammen und fuhr herum, um zu sehen, wer da gesprochen hatte. Ein junger Mann trat zwischen zwei Regalen hervor. »Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich dachte, du hättest mich schon gesehen.«
»Ich hatte gedacht, ich wäre allein hier«, brachte ich hervor.
Er trat hinter die Theke, musterte mich einen Augenblick und griff dann nach einer großen Blechdose, die hinter ihm stand. Routiniert nahm er zwischen den Fingerspitzen eine kleine Dosis heraus, öffnete eine andere Dose und nahm noch einmal die gleiche Menge. »Du bist erkältet«, erklärte er beiläufig. »Ich mache dir einen Tee, das wird dir guttun.«
»Eigentlich wollte ich gar nicht …«, wagte ich einen Protest, aber er setzte einen Wasserkocher auf und hängte ein kleines Sieb in eine große Tasse aus Steingut.
»Geht aufs Haus, keine Sorge!«, meinte er und lächelte. Als er das kochende Wasser über seine Blättermischung goss, sah er kurz auf die Uhr und wandte sich mir zu. »Dauert jetzt sechs oder sieben Minuten. Was kann ich sonst noch für dich tun?«
Erst jetzt fiel das spärliche Licht auf sein Gesicht, und ich sah ihn
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