Holunderliebe
Walahfrid auf die Insel gekommen war.
Wieder sah ich mich um. Womöglich traf das auf die gesamte Klosteranlage zu? War sie in ihrer jetzigen Form schon 826 vollendet? Wohl kaum. Kunstgeschichte war zwar nicht mein Lieblingsfach, aber da konnte ich mir sicher sein. Ein solcher Klosterbau wurde im Lauf der Jahrhunderte wieder und wieder verändert, jeder Abt wollte hier wahrscheinlich seine Spur in Stein meißeln. Und mit dieser Erkenntnis begann ich auch wieder an mir und meiner Phantasie zu zweifeln.
Wie konnte es sein, dass ich eine Kirche gesehen hatte – und dann von einer sehr viel älteren Version genau dieser Kirche geträumt hatte? Das war ja fast so, als hätte ich Visionen aus der Vergangenheit gehabt. Und das klang sogar für jemanden mit einer überschäumenden Phantasie und reichlich Fieber etwas unwahrscheinlich.
Um meinen Kopf wieder frei zu bekommen, verließ ich die Kirche und wandte mich in Richtung des nahe gelegenen Sees. Der Geruch nach Weihrauch beflügelte meine Gedanken nicht im Geringsten. Eher im Gegenteil, ich fand Weihrauch einfach nur penetrant. Bald fand ich mich an dem modernen Hafen wieder. Jachten und schnittige Segelboote warteten hier fest vertäut auf den Beginn der wärmeren Jahreszeit. Ein Routger hätte sich hier niemals zurechtgefunden. Ich suchte mir einen Weg am Seeufer und musste mir eingestehen, dass ich nach der Bucht suchte, in der Thegan seine Schwimmübungen gemacht hatte.
Meine Füße wurden wieder nass, als ich über eine Wiese lief und dann am Wasser weiterging. Warum nur wunderte ich mich kaum noch, als das Land tatsächlich einen eleganten Schwung machte und sich zu einer hübschen, kleinen Bucht öffnete? Sicher, den Steg hatte es damals sicher nicht gegeben, das Ufer war viel zu ordentlich befestigt, und weit und breit war kein ausladender Holunderbusch in voller Blüte zu sehen – aber das hier war die richtige Bucht. Langsam schritt ich sie ab und versuchte einen Sinn in den Bildern aus meinem Traum zu finden.
Fast war es zu spät, als ich merkte, dass mir schlecht wurde und ich mit einem Schwindelgefühl kämpfen musste. Offensichtlich hatte ich vergessen, dass ich eigentlich dringend etwas essen wollte. Jetzt meldete sich mein Körper mit aller Macht. Suchend blickte ich mich um. Die Ortschaft war nicht allzu weit, da würde ich sicher etwas zu essen finden. So schnell wie möglich machte ich mich auf den Weg – vorbei am Hafen und dem alten Kloster. Ich stieß auf eine Wirtschaft, die ganz vielversprechend aussah – aber als ich die Tür öffnen wollte, entdeckte ich einen kleinen handgeschriebenen Zettel, der mich darauf hinwies, dass das Lokal in den Osterferien wieder seine Pforten öffnen würde. Also erst in ein paar Wochen. Noch lag die Insel im Winterschlaf.
In dem zweiten Gasthaus, das ich fand, hatte sich offensichtlich die gesamte Einwohnerschaft der Reichenau versammelt. Es war voll, es war laut, und vor allem gab es keinen einzigen freien Platz mehr für jemanden wie mich.
Genervt stand ich wieder auf der Straße. Zu meinem Glück gab es noch einen kleinen Laden, in dem ich eine Packung Kekse, eine Tafel Vollmilchschokolade und eine Flasche mit Mineralwasser kaufen konnte. Kaum die richtige Ernährung für meinen etwas verwirrten Zustand, aber mir war in diesem Augenblick wirklich alles recht, was Kalorien aufwies und mich wieder zum Leben erweckte.
Gierig riss ich die Packung auf und kaute auf dem ersten Keks herum, während ich ziellos weiter durch den Ort ging. Keine Ahnung, was ich erwartete. Einen Ausblick vielleicht, der mir aus meinen Träumen bekannt vorkam, oder wenigstens eine Bank, auf der ich meine Kekspackung leeren konnte?
Am Ortsrand entdeckte ich einen ordentlich angelegten Garten mit Hochbeeten, der dem des Walahfrid ähnlicher sah als der Nachbau direkt am Kloster. Jedes einzelne Beet war mit Weidengeflecht umgeben, und mit einem Blick konnte ich erkennen, dass hier mehr als nur die berühmten vierundzwanzig Kräuter des Walahfrid angebaut wurden. Es waren bestimmt vierzig oder fünfzig verschiedene Pflanzen und Gemüsesorten, die so früh im Jahr gerade angefangen hatten, ihre charakteristischen Blätter auszutreiben.
Der Garten gehörte zu einem Geschäft, dessen verschlossene Fensterläden aber zeigten, dass hier niemand bereit war, mir einen Tee zu verkaufen oder etwas über diese Pflanzen zu erzählen. Die Dämmerung brach allmählich herein, und ich beschloss, in meine Pension zurückzukehren. Mit ein
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