Holunderliebe
Namen geben als Ambrosia. Ausgerechnet Walahfrid, der Alleswisser, benennt ein Kraut so schlampig. Seine vier Minzen dröselt er auseinander, als ob das Wohl der europäischen Kräutergärten davon abhinge. Aber bei diesem Ambrosiazeug fällt ihm nicht mehr ein als ein geheimnisvoller Satz über die Wirkung.« Der junge Mann hob die Hände. »Du merkst es schon: Ich rede mich in Rage. Gerade weil immer mal wieder jemand diese Ambrosia im Gedicht entdeckt und sich fragt, was uns der schielende Mönch wohl damit sagen wollte. Und keiner weiß es. Wie bist du überhaupt darauf gekommen?«
Ich streckte ihm meine Hand über den Tisch hinweg hin. »Bevor ich weiter deine Kekse esse und deinen Tee trinke, sollte ich mich vielleicht vorstellen: Ich bin Lena Opitz, studiere in Münster Geschichte und bin auf diesen Walahfrid gestoßen, über den ich eine Seminararbeit schreiben will. Dabei habe ich mir gedacht, dass es eine tolle Idee wäre, wenn ich hier direkt auf der Reichenau mal nachsehe, wo er gelebt hat. Und über die Ambrosia stolpert jeder, der den kompletten Text liest.«
Er nahm meine Hand in die seine und sah mich einen winzigen Augenblick zu lange an, bevor er sagte: »Simon Linde. Wie du schon geahnt hast: Das hier ist mein Kräutergarten und mein Laden – aber nicht mein Werk. Ich habe alles von meinen Eltern übernommen, und die haben es wiederum von ihren Eltern geerbt. Ich habe mal nachgeforscht, habe aber irgendwann aufgegeben. Offensichtlich haben meine Vorfahren seit Urzeiten auf der Reichenau mit Kräutern gehandelt.«
In diesem Augenblick kam ein älterer Mann in den Laden. Simon sprang auf und kümmerte sich um eine Teemischung, die er eigens für ihn zusammenstellte. Es ging um Blutreinigung und das Immunsystem, wenn ich es richtig verstand. So hatte ich die Gelegenheit, mich in dem Laden gründlich umzusehen. Von Anfang an waren mir die abgegriffenen Tische und Regale aufgefallen, aber erst durch Simons Erzählung von seiner Familie war klar, dass sie womöglich schon Jahrhunderte überdauert hatten.
Mit einem Lächeln verabschiedete Simon sich von dem Mann und kehrte an meinen Tisch zurück. Sein Blick fiel auf die leer getrunkene Tasse. »Hat dir das gutgetan? Möchtest du noch eine Tasse?«
Ich konnte nicht anders, ich nickte. Es war viel zu einfach, sich hier in diesem Kräuterladen verwöhnen zu lassen, als sich wirklich mit den Problemen eines alten Pergaments und dem Geheimnis eines Krauts herumzuschlagen. »Wenn ich noch einen deiner Kekse dazu haben könnte, wäre das wunderbar.«
Simon nickte und machte sich ein zweites Mal daran, mir einen Zaubertrunk für meine Gesundheit zu mischen. Wir redeten kein Wort, bis er mir das duftende Gebräu wieder vor die Nase stellte. Dankbar schloss ich meine Finger um die heiße Tasse und sah ihn neugierig an. »Du kümmerst dich also selber um den Kräutergarten da draußen? Und verarbeitest hier auch alles, was du erntest?«
»So haben das schon meine Eltern getan. Soll ich ihn dir zeigen? Ich habe sogar ein Beet mit alten Kräutern angelegt, da kannst du dir alles ansehen, was der alte Walahfrid in seinem Gärtchen auch angebaut hat.« Er grinste. »Außer Schlafmohn. Ich denke, die örtliche Polizei hätte kein Verständnis für solche Spielereien!«
»Die meisten Sachen kenne ich.« Verlegen hob ich die Hände. »Ich studiere zwar Geschichte, aber mein großes Interesse ist mein Garten. Da baue ich alles Mögliche an – es gibt kaum einen Samen, der vor mir sicher ist. Ich stecke alles in die Erde.«
»Wetten, dass ich dich überraschen kann?«
Ich stand auf, trank einen letzten Schluck von dem wohlschmeckenden Tee und griff nach dem Keks. »Probier es mal.«
Simon hängte eine kleine Tafel an die Tür seines Ladens, auf dem in geschwungenen Buchstaben stand: »Bin im Garten!«
»Selbst geschrieben?« Ich grinste ihn an.
»Nein, so eine schöne Handschrift habe ich nicht«, erklärte Simon schlicht. »Das Schild ist noch von meiner Mutter, ich habe es einfach übernommen.«
Augenblicke später erreichten wir die Beete. Simon deutete auf Salbei, Rosmarin, Minze, Verbene und Thymian. »Das reicht natürlich nicht für meinen Bedarf. Aber ich möchte die Kräuter auch frisch anbieten können – die Wirkung verändert sich durch das Trocknen. Außerdem bin ich selber ein Fan von Tee aus frischer Pfefferminze für den Sommer. Ich glaube, das meiste an diesen Sträuchern verbrauche ich selber.«
Ich fuhr mit den Fingern über die
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