Holunderliebe
verwundert an. Woher kannte ich ihn nur? Sein Kopf war schmal mit hohen Wangenknochen und einer etwas zu langen Nase. Die dunklen Augen standen weit auseinander, dunkle Locken umrahmten das Gesicht und fielen fast bis auf die Schultern. In dem niedrigen Raum wirkte er noch größer, als er ohnehin war.
Er lächelte immer noch. »Also?«
Erst jetzt merkte ich, dass ich ihn zwar angestarrt, aber keinen Ton gesagt hatte. Der Gipfel der Unhöflichkeit. »Entschuldigung«, stammelte ich. »Ich war in Gedanken. Irgendwie kommst du mir bekannt vor, aber das muss ein Irrtum sein.«
Schulterzucken. »Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Du bist Touristin, oder? Ich habe dich noch nie hier gesehen.«
»Ich bin auch das erste Mal hier auf der Insel. Schön habt ihr es hier.« Ich erinnerte mich an den eigentlichen Grund meines Kommens. »Ich bin auf der Suche nach einem Kraut, und meine Zimmerwirtin hat mir gesagt, dass es nichts gibt, was man in diesem Laden nicht kriegen kann.«
»Eine Übertreibung«, erklärte er, während er das Sieb aus meinem Tee nahm, einen Löffel goldgelben Honig dazugab und einen mit Hafer bestreuten Keks auf eine Untertasse legte und alles zu einem der kleinen Tische trug. »Setz dich doch. Wie heißt dein Kraut denn?«
»Ambrosia«, erklärte ich ohne Umschweife, während ich mich auf dem bequemen Stuhl niederließ.
Er legte seine Stirn in Falten, dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf. »Aus welcher Gegend der Welt soll das denn kommen?« Ohne Umschweife setzte er sich zu mir. »Vielleicht wird es ja nur dort so genannt. Obwohl … es klingt nach einem lateinischen Namen. Nichts Griechisches.«
»Ich habe es aus einem lateinischen Gedicht, das auf dieser Insel entstanden ist. Es wird ›Hortulus‹ genannt und stammt von …«
»Walahfrid Strabo.« Die Fältchen um seine Augen wurden tiefer. »Deswegen kam es mir so bekannt vor. Das Gartengedicht kennt natürlich jeder hier.« Er zeigte auf die Wand, an der ich erst jetzt ein Poster entdeckte, das eine Handschrift meines Walahfrid-Gedichts zeigte. »Vor allem, wenn man einen Laden hat wie ich hier. Damit ist Walahfrid ja so etwas wie mein Schutzheiliger. Mal abgesehen davon, dass es kein Heiliger war.«
Ich nahm einen vorsichtigen Schluck von dem Tee, den er für mich gemischt hatte. Es schmeckte angenehm erfrischend. Überrascht sah ich ihn an. »Was ist da drin? Der Erkältungstee meiner Mutter schmeckt anders!«
»Das war bestimmt eine Fertigmischung. Die Firmen nehmen immer gerne Pfefferminze, die kostet nicht so viel und wirkt schon auch irgendwie in die richtige Richtung. Ich finde, es gibt wirksamere Mittel. In deinem Tee sind Eibischwurzel und Eibischblätter, Anis, Thymian, Salbei – und ein ganz klein wenig von Königskerzen und Schlüsselblumen.« Er grinste. »Nach meiner Erfahrung sollte das deinen Hals beruhigen und dafür sorgen, dass du dich wieder besser fühlst.«
»Keine Ahnung, ob ich mich damit besser fühle. Aber er schmeckt wirklich lecker. Erinnere mich daran, dass ich dir ein paar Teemischungen abkaufe, bevor ich wieder nach Hause fahre.« Neugierig biss ich vom Keks ab. Er schmeckte süß, nach Hafer und irgendeinem nussigen Getreide. »Sag bloß nicht, dass du die auch noch selber bäckst.«
Verlegen hob er die Hände. »Mache ich aber. Ich habe festgestellt, dass die meisten Besucher zu meinem Tee gerne ein wenig Kuchen oder wenigstens einen Keks haben wollen. Irgendwann habe ich angefangen zu backen und gemerkt, dass das wirklich Spaß macht. Die meisten Kuchen und alles Gebäck, was es hier gibt, mache ich selber. So wie auch die Mischungen hier von mir selbst hergestellt werden, ich mag die vorgefertigten Mixturen der großen Firmen nicht. Da sind immer billige Füllstoffe drin, die wenig oder gar nicht mehr wirken. Wenn ich meine eigenen Mischungen mache und auch noch Kräuter aus meinem Anbau dazugebe, kann ich garantieren, dass die Tees wirken …« Er brach mitten im Satz ab. »Aber das wolltest du alles gar nicht wissen. Wenn es um meine Kräuter und Tees geht, lasse ich mich schnell dazu hinreißen, etwas zu viel zu reden. Es ging um Ambrosia, richtig? Wenn ich mich richtig erinnere, dann haben die Forscher doch beschlossen, dass es sich um Rainfarn handeln muss. Walahfrid hat sich leider nicht sonderlich präzise über die Wirkung ausgelassen. Also kann man nicht recht eingrenzen, was er damit wohl gemeint hat. Mal davon abgesehen, kann es keinen alberneren
Weitere Kostenlose Bücher