Holunderliebe
Winters zu verpassen. Ich atmete tief ein und beschloss spontan, dem Golf meiner Eltern eine Pause zu gönnen und mich lieber zu einem kleinen Spaziergang in Richtung des Klosters aufzumachen. Der viereckige Turm des Münsters war schon von der Pension aus zu sehen – auf dieser kleinen Insel war nichts sonderlich weit entfernt.
Beschwingt machte ich mich auf den Weg. Die Bewegung sorgte dafür, dass ich mich schnell wieder besser fühlte – und doch merkte ich, dass ein Teil von mir immer noch dem Traum nachhing. Warum nur erschien mir die Insel so klein, während sie mir doch in meinem Traum niemals beengt vorgekommen war? Hatte ich mir womöglich eine mittelalterliche Sichtweise zugelegt, in der sich das Leben der meisten Menschen selten außerhalb der Dorfgrenzen abspielte?
Stirnrunzelnd ging ich weiter. Meine Füße liefen über die schmale asphaltierte Straße, doch zugleich spürte ich, wie sich die Trampelpfade und die unebenen Fahrrinnen des Mittelalters unter Thegans Füßen angefühlt haben mussten. Thegan. So hieß der Adelige aus meinem Traum, den ich immer noch so deutlich vor mir sehen konnte, als wäre ich ihm erst vor wenigen Minuten begegnet.
Fast von selbst bog ich ab und kam wieder an dem Gärtchen vorbei, das ich gestern schon gesehen hatte. Mit dem Unterschied, dass es mir heute beinahe zu ordentlich vorkam – viel zu sehr wie ein moderner Gemüsegarten und nicht wie die Beete des Walahfrid, der um diese Jahreszeit noch mit den Brennnesseln gerungen hatte. In diese ordentlichen Beete hatte sich bestimmt noch nie eine Brennnessel verlaufen, da war ich mir sicher. Dem Mönch hätte das gefallen, schließlich hatte er ständig über dieses Unkraut geschimpft.
Ich lächelte bei der Erinnerung an Walahfrid – bis mir mit einem Mal klar wurde, dass ich so lebhaft von ihm geträumt hatte, dass ich fast glaubte, ihn zu kennen. Womöglich hatte Walahfrids Handschrift dafür gesorgt, dass mein Unterbewusstsein gleich eine komplette Geschichte um den Mönch zusammenphantasiert hatte. Wobei ich nirgends gelesen hatte, dass Walahfrid schon kurz nach seiner Profess, also als blutjunger Mann, seine wichtigsten Werke geschrieben hatte.
Neugierig ging ich von Beet zu Beet, las die Inschriften und hatte immer wieder das Gefühl, als würde mir der schielende Mönch über die Schulter sehen und Bemerkungen über die Bedeutung jedes einzelnen Kräutleins machen. Ich richtete mich auf und sah mich langsam um. Gab es außer diesem Nachbau von Walahfrids Gärtchen womöglich noch etwas, das ich wiedererkannte?
Sicher, die Glocken im Turm des nahe gelegenen Münsters hatten schon in meinem Traum die Gebetsstunden der Mönche geschlagen. Aber sogar die Anordnung der Steine sah jetzt anders aus, fast so, als seien Teile seitenverkehrt. Ich schüttelte den Kopf über meine lebhafte Phantasie. Offensichtlich hatte sich mein Gehirn aus den wenigen Dingen, die ich gestern gesehen hatte, eine Art Wunschkloster zusammengedichtet. Ohne den Vergleich mit den echten Bauten wäre mir das nie aufgefallen. Lustig war allerdings, dass ich in meiner Phantasie aus allen Wänden funkelnagelneue Mauern gemacht hatte.
Die Klosterstadt war natürlich nicht mehr zu sehen. Wie war ich nur auf den Gedanken gekommen, dass es sich ausschließlich um dich an dicht gebaute Fachwerkhäuser mit tief gezogenen Schindeldächern gehandelt hatte? Wenn meine Zeit es zuließ, musste ich unbedingt einmal nachsehen, wie diese Klosterstädte in Wirklichkeit ausgesehen hatten. Ich konnte mir nicht so recht vorstellen, dass man damals die Klosterstadt so eng an die Kirche gedrängt hatte. Ein wenig Abstand zu den heiligen Männern und ihrem Gemäuer war doch sicher auch im 9. Jahrhundert angebracht gewesen.
Ohne zu zögern, ging ich weiter zum Münster. Durch die geöffnete Tür hörte ich die Orgel spielen. Beim Eintreten umfing mich der typische Weihrauchgeruch. An den hellen Wänden waren einige alte Fresken zu sehen, Bögen und Fenster waren mit gestreiftem Mauerwerk verziert, die mich an den Dom von Siena erinnerten, den ich mal im Urlaub gesehen hatte. Diese Verzierung war zumindest in meinen Träumen nirgends aufgetaucht – und überhaupt hatte ich mir in meiner Phantasie eine sehr viel kleinere Kirche ausgemalt. Langsam ging ich an den Wänden entlang und freute mich über bunte Fenster und einen herrlichen Hochaltar. Ein Schild klärte mich allerdings auf, dass dieser Altar tatsächlich erst mehr als fünf Jahrhunderte nach
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