Holundermond
anschauen. Das ist überhaupt kein Problem.« Jan war offensichtlich nicht bereit, so schnell klein beizugeben.
»Jetzt wird es interessant«, flüsterte Flavio. »Das wird Holzer überhaupt nicht gefallen.«
»Wir können gerne einen ersten Rundgang gemeinsam machen.« Holzer hatte sich wieder vom Fenster entfernt.
Nele atmete auf.
»Allerdings wird ein Teil des Klosters gerade restauriert.«
Die Stimme kam wieder näher. Nele presste sich, so eng es ging, an die Hauswand.
»Wir werden also nicht sämtliche Räume besichtigen können.«
»Das wird auch nicht nötig sein.« Wieder hörte man Papier rascheln.
»Mich interessiert zurzeit eigentlich nur eins. Das …«
In diesem Augenblick wurde das Fenster über ihnen geschlossen.
»Verdammt!« Flavio schlug mit der Hand auf den Boden. »Jetzt sind wir auch nicht viel schlauer als vorher!«
»Konntest du denn etwas sehen?«
»Da war nur ein Haufen Papier auf dem Tisch, irgendwelche Zeichnungen und Skizzen. Und Jan hatte die ganze Zeit ein kleines schwarzes Buch in der Hand.«
Das Notizbuch. Im Moment wünschte sich Nele nichts sehnlicher, als einen Blick darauf werfen zu können. Wenn es tatsächlich ein Geheimnis gab, hinter das Jan gekommen war, dann stand etwas darüber in seinen Aufzeichnungen. »Was machen wir jetzt?« Einfach nur dazusitzen und nichts zu tun, kam für sie nicht infrage.
»Was bleibt uns schon übrig …?« Flavio zuckte mit den Schultern. »Wir fahren zum Naschmarkt.«
»Und Holzer?«
»Holzer wird Jan im Kloster herumführen und sorgfältig darauf achten, dass er nur das zu sehen bekommt, was er sehen soll. Aber das macht nichts. Mein Vater hat einen Schlüssel zur Kartause. Ich kann Jan später noch mal in Ruhe alles zeigen.«
Flavio hatte recht. Jan würde mit Holzer einen langweiligen Rundgang durch das alte Gemäuer machen. In der Zeit konnte sie sich gut den berühmten Naschmarkt ansehen. Aber heute Abend musste sie mit Jan reden. Sie würde ihn fragen, was er entdeckt hatte, und sie wollte nicht lockerlassen, bis er endlich mit der Wahrheit herausgerückt war.
7
Jan genoss die Kühle, die ihn im Inneren des Klosters empfing. Draußen stand die Sonne inzwischen hoch am Himmel und die Luft flimmerte in der Hitze. Seine Augen mussten sich erst an das Dunkel gewöhnen, als er die schwere Eichentür hinter sich zuzog. Er blieb einen Moment im Eingang stehen und ließ den Anblick auf sich wirken. Er hatte ein paar Minuten allein, bevor Holzer zu ihm stoßen würde.
In Kirchen fühlte er sich zu Hause. Seit er ein kleiner Junge war, faszinierten ihn religiöse Bauwerke mehr als alles andere.
Er ging langsam durch den Mittelgang und erinnerte sich daran, dass ihm das große Altarbild schon bei seinem ersten Besuch im letzten Sommer aufgefallen war. Leider hatte er damals keine Zeit gehabt, es in Ruhe zu studieren. Daher hatte er es von allen Seiten fotografiert, um es zueinem späteren Zeitpunkt genauer untersuchen zu können, war dann aber nicht dazu gekommen.
Jan blieb stehen, um das Gemälde zu betrachten, da spürte er einen Luftzug und drehte sich um. Holzer war neben ihn getreten.
Neles Vater glaubte seinem österreichischen Kollegen kein Wort. Es konnte nicht sein, dass Holzer die Zusammenhänge zwischen den Diebstählen und dem Altarbild dieser Kirche nicht genauso aufgefallen waren wie ihm. Er selbst hatte schon nach Bekanntwerden des ersten Diebstahls Verdacht geschöpft. Und er sah diesen bestätigt, als dann auch die Silberschale aus dem Dom gestohlen wurde. Welchen Grund hatte Holzer, sein Wissen zu leugnen? Jeder andere Historiker hätte sich vermutlich ähnlich begeistert wie Jan in die Forschungsarbeit gestürzt, um dem Geheimnis des Gemäldes auf die Spur zu kommen. Holzer jedoch schien mehr daran interessiert zu sein, genau das zu verhindern.
Aber so leicht würde Jan nicht aufgeben. Er zückte sein Notizbuch und begann damit, seine Skizzen mit dem Original zu vergleichen.
»Haben Sie gefunden, was Sie suchen? Dann würde ich Ihnen gerne noch etwas ganz Besonderes zeigen.« Holzer hielt den Schlüsselbund in die Höhe.
»Bitte, geben Sie mir noch zehn Minuten.« Jan ließ Holzer stehen und wandte sich wieder dem Altar zu. »Sehen Sie hier«, er wies auf die Mitte des Bildes, »ein goldener Kelch! Und da die Dame, sie trägt ein Silbertablett!«
»Herr Kollege, Sie wollen mir nicht ernsthaft erzählen, dass Sie nach Österreich gekommen sind, um mir das Altarbild dieser Kirche zu erläutern. Das Gemälde
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