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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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Menschen, schoss es ihm durch den Kopf. Menschen, die ihm vielleicht helfen konnten, Holzer zu überwältigen. Holzer blieb stehen, verstärkte seinen Griff und zog Flavios Gesicht dicht vor seines. Flavio stöhnte auf vor Schmerz.
    »Diese Menschen werden dir nicht helfen«, raunte er ihm ins Ohr. Seine Stimme klang heiser. Flavio fluchte innerlich. Konnte der Kerl Gedanken lesen? Holzer brachteseinen Mund jetzt so dicht an Flavios Ohr, dass dieser seinen Atem spüren konnte. »Sie alle hier werden sterben«, flüsterte er, »die einen heute, die anderen morgen. Auf ein Kind mehr oder weniger kommt es ihnen nicht an. Du bist ihnen egal, Flavio Giordanetto, vollkommen egal. Dein Leben ist hier so bedeutungslos wie das Leben eines Insekts. Ich könnte dich vor ihren Augen zertreten wie eine Laus, und die Meute da unten würde noch nicht einmal die Augen aufschlagen, um dich sterben zu sehen.« Er packte ihn fester und schob ihn weiter. »Und jetzt beweg dich, ich habe nicht ewig Zeit.«
    Jetzt oder nie, dachte Flavio.
    Mit einem lauten Schrei ließ er sich einfach fallen. Und entglitt Holzers Griff. Fluchend stolperte der Historiker die Treppe hinunter, als Flavio sich unter seinem Arm durchwand, ihm das Paket entriss und durch den Kirchengang rannte.
    Wenn es nur nicht so dunkel wäre, schoss es Flavio durch den Kopf. Überall waren Menschen und versperrten ihm den Weg. Manchen sah er erst im letzten Moment. Fast blind stolperte er weiter vorwärts über die Lager der Kranken. Zum Brunnenhaus. Das war sein einziger Gedanke. Nur schnell zum Brunnenhaus.
    »Haltet ihn auf! Ein Dieb, haltet ihn!«
    Holzers Stimme schallte durch die Kirche. Aus den Augenwinkeln sah Flavio, wie sich Einzelne aufrichteten und ihn anstarrten. Aber niemand hielt ihn auf.
    Endlich erreichte er die Tür.
    Im Gang war es nicht viel heller als in der Kirche. Hinter sich hörte er Holzer keuchen. Der Historiker klang, als hätte er Mühe, ihm zu folgen. Wenn er es nur vor ihm zum Brunnenhaus schaffte. Flavio klemmte sich das Paket noch ein wenig fester unter den Arm. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Hinter der nächsten Biegung lag das Brunnenhaus. Zumindest war dort das Brunnenhaus in seiner Zeit, korrigierte sich Flavio.
    »Bleib stehen, Giordanetto! Gib mir das verdammte Schwert wieder, ich … aaah …«
    Flavio wagte einen Blick über die Schulter und sah Holzer, der sich vor Schmerz krümmte und sich mit beiden Händen den Kopf hielt.
    Das war seine Chance. Flavio hastete weiter. Da vorne, es waren nur noch ein paar Meter, dann hatte er sein Ziel erreicht. Eine Fackel steckte in der Wand neben der Tür zum Brunnenhaus.
    »Bitte lass die Tür offen sein«, murmelte Flavio und zerrte an dem Griff. Die schwere Tür gab ächzend nach und Flavio schlüpfte mit seiner Beute ins Innere des Raumes.
    Auf dem Brunnenrand stand eine brennende Kerze und malte tanzende Schatten an die Wände.
    Flavio drückte mit aller Kraft gegen den schweren hölzernen Deckel, der den Brunnen verschloss.
    »He, was soll das, Bürschchen?«
    Flavio zuckte zusammen.
    Erst jetzt merkte er, dass er nicht allein war. Ein breitschultriger Mann, der offensichtlich auf dem Boden geschlafenhatte, richtete sich schwerfällig auf und kam auf ihn zu.
    »Wasser gibt es erst morgen früh wieder, also verschwinde!« Der Fremde streckte einen seiner dicken Arme aus, um ihn von dem Brunnen wegzuziehen, aber Flavio rammte ihm mit Wucht sein Knie zwischen die Beine. Laut fluchend sackte der Klotz zusammen.
    »Verdammtes Teil, beweg dich endlich«, keuchte Flavio und stemmte sich noch einmal mit beiden Schultern gegen die hölzerne Abdeckung. Zentimeter für Zentimeter gab sie nach.
    »Ich habe gesagt, du sollst hier verschwinden!«
    Der Koloss hatte sich wieder erholt und wankte erneut auf Flavio zu.
    In diesem Moment öffnete sich die Tür hinter ihnen.
    »Hab ich dich endlich, Giordanetto!«
    Holzer.
    »Was zum Teufel …?« Der Brunnenwächter ließ Flavio los und fuhr herum.
    Jetzt. Das musste reichen. Flavio legte das Paket auf den Brunnenrand und begann, es durch den schmalen Spalt zu schieben.
    Hinter sich hörte er Holzer mit dem Fremden sprechen.
    »Lass mich vorbei, du Idiot, er ist ein Dieb!«
    Nur noch ein kleines Stückchen. Flavio drückte mit aller Kraft auf das Bündel, bis es endlich nachgab und durch die Öffnung in den Tiefen des Brunnens verschwand.
    »Nein!« Holzer brüllte wie ein verwundetes Tier. »Du verfluchter Bastard!« Er stürzte an

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